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Tod in der Ägäis – Griechenlands Grenzschützer unter Verdacht
Politik
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MÃœNCHEN, DONNERSTAG, 13. FEBRUAR 2014
70. JAHRGANG / 7. WOCHE / NR. 36 / 2,30 EURO
(SZ) Männer, die sich im Laufe ihres Le-
bens ein gewisses Geschick im Umgang
mit Frauen erworben haben, wissen, wie
man einer Dame, die nicht alle Merkmale
vollkommener Schönheit besitzt, trotz-
dem ein angemessenes Kompliment
macht: Man nennt sie einfach apart. Auch
im kulinarischen Bereich lässt sich mit der
nötigen Lebenserfahrung eine Charakteri-
sierung treffen, welche die Wahrheit be-
kömmlich macht: Im Fall der deutschen
Küche verwendet der Kenner das schöne
Wort von der regionalen Qualität. Welten-
kundige wie Wolfram Siebeck würden nie
über die nachschmeckenden Lippen brin-
gen, wie erlesen die gesamtdeutsche Kü-
che sei. Sie bevorzugen die Sprachrege-
lung, die deutsche Küche entfalte ihre wah-
re Qualität im charakterfesten Regional-
tableau. Man kann dieses Kompliment
natürlich aushebeln, indem man sich den
Affront vorstellt, jemand würde sich anma-
ßen, die große französische Küche klein-
lich in Bretagne oder Dordogne zu portio-
nieren, aber: C’est la vie. Die Bekömmlich-
keit einer kleinen Lebenslüge sollten die
Deutschen nicht unterschätzen.
Nun stören schrille Töne das kleinteili-
ge deutsche Küchen-Idyll. Und zwar ausge-
rechnet von jemandem, der in einem Film
mitspielt, in dem es um die Frage geht, ob
es sich lohnt, für die Kunst respektive den
guten Geschmack sein Leben in die Waag-
schale zu werfen. Matt Damon, amerikani-
scher Großschauspieler, erwiesenerma-
ßen wandlungsfähig und sensibel bis in
die Finger-, wenn nicht bis in die Gabelspit-
zen, hat bei „Monuments Men“ mitge-
spielt. Es geht um Soldaten, die Kopf und
Kragen riskieren bei ihrer Mission, den Na-
zis im Feindesland wertvolle Kunstschätze
zu entreißen. Gedreht wurde in Babels-
berg, das liegt bei Berlin, und gegessen
wurde dort wohl auch. Das eine war okay,
das andere war ein Desaster, wie Matt Da-
mon nun in einem
Playboy
-Interview be-
kannte. „Ihr Deutschen kriegt alles Mögli-
che hin. Eure Motoren sind Weltklasse.
Aber beim Essen klappt das nicht.“
Nun fühlt sich jeder Gastgeber in seiner
Ehre getroffen, wenn ihm im Nachhinein
zu verstehen gegeben wird, dass seine Fer-
tigkeiten auf dem Gebiet der Verköstigung
Wünsche offen gelassen haben. Zum Glück
ist Matt Damon ein Mann mit Blick für das
Detail, und er präzisierte, wonach ihm der
Sinn stand: In der Wüste trostloser Kulina-
rik rettete ihn ein Sandwich, das ihm ei-
gens gebracht wurde. Bei diesen Worten
merken Kenner der US-Küche auf. Fleisch
hat dieses Land groß und stark gemacht.
Es gibt im Heart-Attack-Grill in Las Vegas
die größten Burger der Welt, der Quadru-
ple Bypass Burger wiegt 1,4 Kilogramm
und hat einen Nährwert von 9982 Kilokalo-
rien. Die Bedienungen tragen Schwestern-
kostüme und die Gäste bekommen Kran-
kenhauskittel umgebunden. Es fallen hier
nämlich immer wieder Leute tot um, de-
nen es einfach zu gut geschmeckt hat.
Weißes Österreich
In Osttirol liegt meter-
hoch
Schnee.
Das
freut
die
Gäste,
aber
nicht alle Einheimischen.
Seite V2/1
Neue Schweiz
Das Hotel The Chedi in An-
dermatt soll viele reiche Ausländer in das
Bergdorf locken.
Seite V2/3
Altes Russland
Vor 40 Jahren war Sotschi
ein exklusives Reiseziel für DDR-Bürger.
Eine Touristin erinnert sich.
Seite V2/5
Parlament versagt
Snowden Hilfe
EU-Innenausschuss
lehnt Antrag der Grünen ab
Brüssel
– Auf der Suche nach Zuflucht in ei-
nem Land der Europäischen Union kann
der frühere US-Geheimdienstmitarbeiter
Edward Snowden nicht auf Unterstützung
des Europäischen Parlaments bauen. Der
Innenausschuss des Parlaments verab-
schiedete am Mittwoch einen Bericht über
die durch Snowdens Enthüllungen ins Rol-
len gebrachte NSA-Affäre, in dem scharfe
Kritik an den USA geübt wird und Konse-
quenzen gefordert werden. Das Gremium
lehnte aber einen Antrag der Grünen ab,
die Mitgliedstaaten zum Schutz Snowdens
aufzurufen.
In freier Natur könnten diese beiden Albino-Alligatoren nicht überleben. Wegen eines genetischen Defekts fehlt ihrer Haut die Pig-
mentierung. Diese ist so empfindlich und bleich, dass sich die Tiere in der Sonne ihrer Heimat sofort lebensgefährlich verbrennen
würden. Doch für diese beiden Exemplare besteht keine Gefahr: Sie sind am Mittwoch in das Tropische Aquarium in Paris eingezo-
gen und werden ihr Leben im angenehmen Schatten verbringen.
Die weißen Zwei
FOTO: ERIC FEFERBERG/AFP
Verstoßene Kinder zahlen für ihre Eltern
Ein Vater wendet sich von der Familie ab, enterbt den Sohn, hat keinen Kontakt mehr zu ihm.
Und dennoch muss der Sohn die Pflegekosten des Seniors tragen, urteilt der Bundesgerichtshof
sz
Seite 7
SOTSCHI 2014
von wo
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anisch
Weil der Sohn beim Bruch mit dem Vater
bereits volljährig war, sah der BGH-Fami-
liensenat dagegen im Verhalten des Vaters
keinen ausreichenden Grund, ihm den An-
spruch auf „Elternunterhalt“ zu versagen.
„Der bloße Kontaktabbruch gegenüber ei-
nem volljährigen Kind ist noch keine
schwere Verfehlung“, sagte der Senatsvor-
sitzende Hans-Joachim Dose. Zwar liegt in
der Aufkündigung des „familiären Ban-
des“ nach Doses Worten durchaus ein ge-
wisser Bruch mit der – seit 1979 auch im
Bürgerlichen Gesetzbuch festgeschriebe-
nen – Pflicht zu „Beistand und Rücksicht“
in der Familie. In der „entscheidenden Le-
bensphase, in der regelmäßig eine beson-
ders intensive elterliche Fürsorge erforder-
lich ist“, sei der Vater jedoch seinen Eltern-
pflichten nachgekommen. In einem Urteil
von 2004 hatte der BGH den Anspruch ei-
ner Mutter als verwirkt angesehen, weil sie
ihre damals einjährige Tochter zurückge-
lassen hatte. Hinzu kommt: In der Ent-
erbung liegt laut BGH überhaupt keine Ver-
fehlung des Vaters, weil jeder frei sei, sein
Erbe nach Gutdünken zu verteilen. (Az: XII
ZB 607/12)
Der Anspruch auf Elternunterhalt wird
meist von den Trägern der Sozialhilfe gel-
tend gemacht, welche die Heimkosten für
alte Menschen vorstrecken und sie – wo
möglich – von deren Kindern zurückholen.
Nach Angaben des Städte- und Gemeinde-
bundes lagen im Jahr 2012 die Bruttoausga-
ben der Kommunen für die Pflege bei
3,7 Milliarden Euro – Tendenz stark stei-
gend. Davon haben sie Regressforderun-
gen von rund 500 Millionen bei den zu Un-
terhalt
Der Senatsvorsitzende Dose erläuterte,
dass der BGH zwar im Grundsatz, nicht
aber beim Umfang solcher Ansprüche
streng sei. „Wenn es um die Höhe geht, ist
der Senat sehr großzügig.“ Tatsächlich hat
der BGH vor mehr als zehn Jahren mit ei-
ner Entlastung der „Sandwich-Generati-
on“ begonnen, die zwischen den Unter-
haltsansprüchen der eigenen Kinder und
der immer älter werdenden Eltern einge-
klemmt ist. Grundsätzlich darf der Re-
gress wegen der Heimkosten nicht zu einer
drastischen Absenkung des eigenen Le-
bensstandards oder gar zum Verkauf des
Eigenheims führen. Außerdem billigt der
BGH den Betroffenen zu, fünf Prozent vom
Bruttoeinkommen für die private Alters-
vorsorge zurückzulegen. Und der Unter-
halt für die eigenen Kinder hat ohnehin
Vorrang.
Karlsruhe
– Erwachsene Kinder haften
grundsätzlich selbst dann für die Heimkos-
ten ihrer pflegebedürftigen Eltern, wenn
diese den Kontakt vor Jahrzehnten abge-
brochen haben. Nach einem Beschluss des
Bundesgerichtshofs (BGH) muss ein
60-jähriger Mann den Bremer Sozialbehör-
den 9000 Euro für das Pflegeheim erstat-
ten, in dem sein Vater während der letzten
Jahre bis zu seinem Tod gelebt hatte. Der
Mann hatte sich darauf berufen, dass der
Anspruch „verwirkt“ sei, weil sein Vater
vor Jahrzehnten die Familie verlassen und
seit dem Abitur keinerlei Verbindung
mehr zu ihm gesucht habe. Außerdem hat-
te der Vater ihn 1998 enterbt – mit der Be-
gründung, dass man ja seit fast dreißig Jah-
ren keinen Kontakt mehr habe.
Formvollendet bis ins Ziel:
Der nordische
Kombinierer Eric Frenzel krönt seine Sai-
son mit Olympia-Gold.
Seite 29
1:41,57:
Dominique Gisin und Tina Maze
teilen sich als erste alpine Skirennfahrerin-
nen den Abfahrtstitel.
Seite 31
Bildhauer imHimmel:
Der Halfpipe-Akro-
bat Iouri Podladtchikov löst Shaun White
als Chef-Charismatiker ab.
Seite 33
Rodeln als Staffel? Wie die Ãœbergabe im
Eiskanal geht. www.sz.de/sogehtolympia
verpflichteten
Kindern
durchge-
setzt.
Seiten 2 und 4
HEUTE
Obama ist ratlos
wegen Syrien
Der Fiskus schafft Doppelgänger
Anders als versprochen, ist die Steuernummer nicht eindeutig
Viele Dinge machen einen Menschen ein-
zigartig und unverwechselbar. Der Finger-
abdruck hat es deshalb zu großer Bedeu-
tung in der Polizeiarbeit und in Krimis ge-
bracht. Auch das Muster der Iris ist bei je-
dermann verschieden. Selbst eineiige
Zwillinge kann man anhand dieses Merk-
mals mit großer Sicherheit voneinander
unterscheiden.
Die 2007 eingeführte Steueridentifika-
tionsnummer soll einen ähnlichen Zweck
erfüllen. Ein ganzes Leben lang soll sie
den Bundesbürger begleiten, erst im To-
desfall wird sie gelöscht, spätestens aber
20 Jahre danach. Sie steht in der ersten
Post, die jedes neugeborene Kind vom Fi-
nanzamt erhält, genauer gesagt, vom Bun-
deszentralamt für Steuern. Die elfstellige
Ziffernfolge ist sozusagen der Fingerab-
druck des Steuerzahlers, einzigartig, un-
verwechselbar.
Oder auch nicht. Bei insgesamt 164 451
Steuernummern
zen haben. Opfer dieses kuriosen Verwal-
tungsfehlers wurden zum Beispiel zwei
Arbeitnehmer, die am gleichen Tag gebo-
ren sind, einen sehr ähnlichen Namen tra-
gen, sonst aber nichts miteinander zu tun
haben.
Wegen derselben Steuernummer, so
der Fachdienst, wurde einer der beiden
von seiner Firma in die Steuerklasse VI
eingestuft. Diese kommt zum Zug, wenn
ein Arbeitnehmer ein zweites Arbeitsver-
hältnis annimmt. In der Steuerklasse VI
muss man die höchste Steuerlast über-
haupt tragen, weil hier so gut wie kein
Freibetrag mehr zur Geltung kommt.
Erst auf Nachfrage des perplexen Steu-
erzahlers stellte sich heraus, dass die Ein-
ordnung nur deshalb zustande kam, weil
der Steuernummer-Doppelgänger vor
ihm eine Arbeit aufgenommen hatte. We-
gen derselben Steuernummer galten die
beiden
Die Seite Drei
In Eisleben wird eine syrische Familie
verprügelt. Aber die Behörden
München
– US-Präsident Barack Obama
hat eingeräumt, dass die diplomatischen
Bemühungen um Frieden in Syrien so gut
wie gescheitert sind. Die Gespräche zwi-
schen dem syrischen Regime und Vertre-
tern der Aufständischen in Genf seien
„weit davon entfernt“, eine Lösung zu errei-
chen, sagte Obama.
reagieren lange nicht
3
ein Irrtum. Entweder erhielt ein Steuer-
zahler zwei Nummern, oder aber, schlim-
mer noch, zwei Steuerzahler bekamen die-
selbe Nummer. Einzigartig? Unverwech-
selbar? Pustekuchen.
Der Bundesregierung sei bekannt,
„dass es Sachverhalte gibt, in denen einer
Person mehrere Steueridentifikations-
nummern zugewiesen wurden“, schreibt
der Parlamentarische Staatssekretär im
Finanzministerium, Michael Meister, et-
was gewunden in einer der SZ vorliegen-
den Antwort auf eine Anfrage des Linken-
Steuerexperten Richard Pitterle.
Dies könne geschehen, weil bei der
Rückkehr nach einem Auslandsaufent-
halt von den Meldebehörden häufig eine
neue Steuernummer angefordert werde,
schreibt Meister weiter. Das Bundeszen-
tralamt gehe den Fällen nach und habe,
Stand Anfang Dezember des vergange-
nen Jahres, bereits 106 029 erledigt. Gut
14 000
Meinung
Eine Intervention des Westens
ist in Zentralafrika
doppelte
Fälle
würden
derzeit
sz
Seiten 4 und 8
leichter als in Syrien
4
noch bearbeitet.
Doch die von Meister beschriebene Va-
riante, dass eine Person zwei Nummern
erhalten hat, ist offenkundig nicht die ein-
zige Form des Irrtums. Es gibt auch Kla-
gen darüber, dass zwei Personen dieselbe
Nummer bekommen haben. Dabei han-
delt es sich um etwa 1300 Fälle, wie das
Zentralamt dem Fachdienst
Steuerbera-
ter intern
erklärte. Diese seien durch ma-
nuelle Eingabefehler zu erklären.
Und diese Form der Doppelvergabe
kann ziemlich unangenehme Konsequen-
SPD und Opposition
einig bei „Pille danach“
Panorama
Die Anklage im Loveparade-Verfahren
enttäuscht nicht nur
die Hinterbliebenen
9
München
– Grüne und Linke wollen durch-
setzen, dass Frauen die „Pille danach“ oh-
ne Rezept in Apotheken erhalten. Entspre-
chende Anträge sollen am Donnerstag im
Bundestag debattiert werden. Auch die
SPD fordert eine Freigabe, obwohl Gesund-
heitsminister Hermann Gröhe (CDU) dies
ablehnt.
Feuilleton
Im Fall Gurlitt müsste jetzt
auch in Salzburg nach
für
die
Finanzbehörden
als
ein
Raubkunst gesucht werden
11
unterlief
der
Behörde
und dieselbe Person.
guido bohsem
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Seite 5
Wirtschaft
Die Öko-Branche boomt. Doch an
den deutschen Erzeugern geht
Knesset-Abgeordnete beschimpfen Schulz als Lügner
Während einer Rede des EU-Parlamentspräsidenten in Israel verlassen Regierungs-Politiker den Saal
Dax
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Dow
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Euro
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der Aufschwung vorbei
20
Xetra Schluss
9540 Punkte
N.Y. 18 Uhr
15940 Punkte
18 Uhr
1,3590 US-$
+ 0,65%
- 0,34%
- 0,0050
Medien, TV-/ Radioprogramm
35,36
Jerusalem
– Ein Auftritt des deutschen EU-
Parlamentspräsidenten Martin Schulz in
der Knesset hat zu einem Eklat geführt. Ab-
geordnete der Regierungspartei Jüdisches
Heim verließen während dessen Rede un-
ter Protest den Parlamentssaal. Der Partei-
chef und Wirtschaftsminister Naftali Ben-
nett begründete dies damit, dass Schulz
„Lügen“ über die Lage der Palästinenser
verbreitet habe. Bennett sah damit „Israels
nationale Ehre verletzt“ und forderte eine
Entschuldigung von Schulz. Der Vorfall
wirft ein Schlaglicht darauf, wie belastet
derzeit die Beziehungen zwischen der Eu-
ropäischen Union und Israel sind.
Schulz hatte in seiner auf Deutsch gehal-
tenen Rede die Unterstützung der EU für
den Friedensprozess hervorgehoben und
darauf verwiesen, dass „auch die Palästi-
nenser in Frieden leben und unbegrenzte
Bewegungsfreiheit“ haben wollten. Zum
Tumult kam es, als er von der Begegnung
mit einem palästinensischen Jugendli-
chen berichtete, der ihn gefragt habe, „war-
um ein Israeli 70 Kubikmeter Wasser und
ein Palästinenser nur 17 nutzen kann“. Die
ungleiche Verteilung des Wassers wird un-
ter anderem auch in Studien von Weltbank
und den UN bestätigt, doch Schulz gab zu,
dass er die Zahlen „nicht gecheckt“ habe.
Neben Bennett klagte anschließend
auch Kulturministerin Limor Livnat über
„gemeine Lügen“. Premierminister Benja-
min Netanjahu warf Schulz vor, er erliege
„wie so viele Europäer einer selektiven
Wahrnehmung“ und verharmlose die Be-
drohungen, denen Israel ausgesetzt sei.
Überdies geriet der EU-Parlamentspräsi-
dent wegen seiner deutschen Herkunft in
die Kritik. „Schulz hat Lügen auf Deutsch
verbreitet, und es ist bedauerlich, dass je-
mand Deutsch in diesem Haus sprechen
darf“, sagte der für Rentner zuständige Mi-
nister Uri Orbach. „Die Generation seiner
Eltern und die Eltern der arabischen Abge-
ordneten haben zusammengearbeitet, um
die Juden zu vernichten.“
Solche Angriffe trafen Schulz, obwohl er
in seiner Rede eindringlich auf die deut-
sche Verantwortung gegenüber Israel ver-
wiesen hatte. Er sei 1955, also zehn Jahre
nach dem Holocaust, geboren worden,
sagt er, „aber ich trage Verantwortung, die
vom Massenmord herrührt, der im Namen
meiner Nation durchgeführt wurde“.
Zuvor hatte Schulz auch nach Kräften
versucht, das derzeit konfliktbeladene Ver-
hältnis zwischen Israel und der EU zu ent-
spannen. „Es gibt keinen Boykott der Euro-
päischen Union gegen Israel“, versicherte
er vor Journalisten, um entsprechende Be-
fürchtungen der israelischen Regierung
wegen des heftiger werdenden Streits über
die Siedlungspolitik zu zerstreuen. Auf Dis-
tanz ging er zudem zu Bestrebungen in der
EU, eine Kennzeichnungspflicht für Pro-
dukte aus den Siedlungen im besetzten pa-
lästinensischen Westjordanland einzufüh-
ren. „Ich bin nicht überzeugt, dass wirt-
schaftlicher Druck hilft“, sagt Schulz. Prag-
matisch zeigte er sich sogar beim Streitthe-
ma Siedlungsbau. „Wir brauchen prakti-
sche Lösungen und keine Diskussion dar-
über, ob das legal oder illegal ist.“ Den Auf-
ruhr in der Knesset aber hat all das nicht
verhindert.
Forum & Leserbriefe
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München · Bayern
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DAS WETTER
Rätsel
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Familienanzeigen
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Dkr. 23; £ 3,00; kn 27; sfr. 4,80; czk 85; Ft 780
Von Norden und Westen breitet sich der
Regen in den Osten und Süden aus. Auf
den Bergen schneit es. In Südostbayern
bleibt es weitgehend trocken. Höchstwerte
fünf bis elf Grad. In höheren Lagen Sturm-
böen bis 120 km/h.
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Die SZ gibt es als App für Tablet
und Smartphone:
sz.de/app
peter münch
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HF2
THEMA DES TAGES
Donnerstag, 13. Februar 2014, Nr. 36 DEFGH
BGH-Urteil zum Elternunterhalt
Der Vater hatte sich von der Familie abgewendet und den Kontakt zu seinem Sohn vor mehr als vierzig Jahren
abgebrochen. Schließlich hat er seinen Sohn enterbt. Die Karlsruher Richter entschieden jetzt, dass der Sohn trotzdem den größten Teil
der Heimkosten für den Vater übernehmen muss. Diese Pflicht kann viele treffen. Denn es gilt der Grundsatz: Kinder haften für ihre Eltern
Wie der Vater,
so der Sohn
Das Einstehen füreinander gilt in beide Richtungen,
und das kann im Einzelfall durchaus eine Zumutung sein
von wo
lfgang ja
nisch
E
s ist der Albtraum der Mittelschicht:
was erwill, erkannesderHeilsarmee verer-
ben oder der Geliebten.
Insofern markiert der Beschluss keine
dramatischeWende inder BGH-Rechtspre-
chung. „Bei der Verwirkung hängt die Latte
immer sehr hoch“, sagt Isabell Götz, Vorsit-
zendedesDeutschenFamiliengerichtstags.
Wie auch der Student seinen Unterhalts-
anspruch behält, wenn er von seinen Eltern
Geld, aber sonst nichts mehr will, verlieren
Eltern ihren Anspruch nicht bereits da-
durch, dass sie sich jahrelang von den Kin-
dern ferngehalten haben. Bei Kleinkindern
ist dies jedoch anders, wie der BGH 2004
entschieden hat: Eine Mutter hatte ihr ein-
jährigesKindbei denGroßeltern zurückge-
lassen, ist in die USA ausgewandert – und
hat es irgendwie vergessen. Obwohl das
Kind bei denGroßeltern behütet aufwuchs,
stufte der BGHdas VerhaltenderMutter als
„schwereVerfehlung“ ein. GeradeKleinkin-
dern müsse vermittelt werden, „dass ein in
Liebe und Zuneigung verbundener Eltern-
teil für es da ist“.
Man ist beruflich einigermaßen eta-
bliert, dieKinder sindaus demGröbs-
ten raus – da müssen die Eltern ins Heim.
Und wenn Rente und Pflegesatz nicht rei-
chen, dannkanndasSozialamt Regressneh-
men. Denn Familiensolidarität gilt in beide
Richtungen: Erwachsene Kinder haften
eben auch für ihre Eltern.
Die jüngste Entscheidung des Bundesge-
richtshofs (BGH) zumElternunterhalt wirft
ein Schlaglicht auf diese Situation, die in
den kommenden Jahren wegen der demo-
grafischen Entwicklung dramatisch an Re-
levanz gewinnen wird (siehe nebenstehen-
denArtikel). Und zwar einbesonders grelles
Schlaglicht. Die bremischen Sozialbehör-
dennehmenbei eineminzwischen60-jähri-
genMann Regress für einen Teil der Heim-
kosten seines vor zwei Jahren gestorbenen
Vaters. Eines Vaters, der die Familie verlas-
sen und den Sohn enterbt hat. Der Kontakt
war Anfangder Siebzigerjahre endgültigab-
gebrochen, nachdem der Sohn Abitur ge-
macht hatte. 27 Jahre später erinnerte sich
der Vater noch einmal an den Sohn – als er
ihn enterbte: Der Sohn solle nur den
„strengsten Pflichtteil“ bekommen,
schrieb er ins Testament, also so wenig wie
gesetzlich nur irgendmöglich. Weil man ja
seit 27 Jahren keinen Kontakt mehr habe.
Nun soll der Sohn also 9000 Euro nach-
zahlen, ein Drittel der gesamten Kosten. Ist
das ungerecht? Dazu muss man wissen,
dass das Gesetz eine Regel kennt und eine
Ausnahme. Die Regel: Sowie Eltern für ihre
Kinder einzustehenhaben,müssen erwach-
sene Kinder auch für ihre Eltern Unterhalt
zahlen–freilichnachweniger striktenMaß-
stäben. Die Ausnahme: Wenn die Eltern
sich „schwerer Verfehlungen“ gegen ihre
Kinder schuldig gemacht haben oder selbst
kaum je Unterhalt gezahlt haben, dann ist
der Anspruch „verwirkt“.
Schwere Verfehlung: Das ist einer dieser
moralisch aufgeladenen Juristenbegriffe,
wie sie immer noch durch das Familien-
recht geistern. Der Richtermuss denSchul-
digenamzerstörtenFamilienfrieden identi-
fizieren, bei Streitigkeiten also, die nie in
Schwarz und Weiß gemalt sind. Die Ge-
schichte vom hartherzigen Vater und vom
verstoßenen Sohn trifft selten die komple-
xe Realität einer zerstrittenen Familie. Des-
wegen hat sich der BGH nicht damit aufge-
halten, ob der Vater den Sohn tatsächlich –
wie dieser behauptet – am 1. Mai 1971 be-
trunken in eine Glasscheibe gestoßen hat.
Oder 1976, bei der Beerdigung des Großva-
ters: Es kamkein Gespräch zustande – aber
wer hat nunmit wemnicht geredet?
Wer für die Heimkosten seiner
Eltern haftet, darf mindestens
1600 Euro für sich behalten
Doch so strikt der BGH im Grundsatz auf
Familiensolidarität beharrt, so großzügig ist
er bei einer sehr viel entscheidenderen Fra-
ge: Wie viel muss jemand von seinem Ein-
kommen für die Heimkosten der Eltern ab-
zweigen? Vor gut zehn Jahren hatte das Ge-
richt die Doppelbelastung der Sandwichge-
neration angenommen und die Ansprüche
deutlich zurückgefahren. Das lässt sich
etwa am sogenannten Selbstbehalt ablesen,
also an dem Betrag, der dem Betroffenen
auf jeden Fall für seinen eigenen Unterhalt
verbleibenmuss.Wer fürminderjährigeKin-
der aufkommen muss, hat einen Selbstbe-
halt von lediglich rund1000Euro.Wer dage-
gen für die Heimkosten seiner Eltern haftet,
darf mindestens 1600 Euro für sich behal-
ten. Bei höheren Gehältern kann der Betrag
weiter angehoben werden, und zwar umdie
Hälfte der Differenz zwischen Einkommen
undden 1600Euro.Wer also 2400Euro net-
toverdient, hättedamit 2000EuroSelbstbe-
halt. „Die Rechtsprechung achtet darauf,
dass die Betroffenen sich nicht sonderlich
einschränkenmüssen“, sagt Isabell Götz.
Hinzukommt die private Altersvorsorge.
Fünf Prozent vom Bruttoeinkommen sind
für das Sozialamt tabu, hat der BGH ent-
schieden. Auch, weil sonst das Problemnur
verschoben wäre: Wer heute nicht ausrei-
chend fürsAlter vorsorgt, wirdmorgenwo-
möglich selbst zum Sozialfall. Und wer für
eigene Kinder zahlt, der muss nur dann für
seine Eltern aufkommen, wenn noch etwas
übrigbleibt –weil derKindesunterhalt Vor-
rang hat.
Nun gibt es, wenn die Eltern pflegebe-
dürftig werden, beileibe nicht immer
Streit: „Viele Kinder stehen zu ihrer Unter-
haltspflicht, wennsiemit Augenmaßgestal-
tet wird“, sagt Götz. Wenn aber gestritten
wird, dann gleichen die Urteile mitunter
dem Haushaltsplan einer Mittelstadt. Der
BGH hat jüngst ein Urteil des Oberlandes-
gerichts Hamm bestätigt. Das OLG-Urteil
ist voller Tabellen, in denenminutiös Steu-
ererstattung und Wohnwert, Versiche-
rungsbeiträge und Vorsorgeaufwendun-
gen verrechnet werden. Am Ende musste
die Frau zwar einen Teil der Kosten erstat-
ten – durfte aber sogar ihre Fahrten zum
Pflegeheim absetzen. Nur die Aufwendun-
gen für das Reitpferd hat das OLG dann
doch nicht akzeptiert.
Nur wenn sich die Eltern „schwerer Verfehlungen“ gegenüber ihren Kindern schuldig gemacht
oder selbst kaum je Unterhalt gezahlt haben, ist der Anspruch „verwirkt“. Dann müssen die Kinder
nicht für ihre Eltern einstehen. Aber was sind schwere Verfehlungen?
FOTOS: UTE GRABOWSKY/PHOTOTHEK.NET
Generation Zahlmeister
Viele zwischen 30 und 60 befürchten, Geld nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Eltern aufbringen zu müssen
Es ist eineGeneration, die irgendwiedazwi-
schen liegt: 35 Millionen Menschen, nicht
mehr ganz jung, aber auch nicht alt, zwi-
schen 30 und 60 Jahren, die das sind, was
man die Stütze der sozialen Sicherung
nennt. Sie kümmern sich um Kinder, die
noch ihre Fürsorge benötigen – und viel-
leicht gleichzeitig schonumEltern, dieHil-
fe brauchen. Der Druck kommt also von
zwei Seiten. Und die sogenannte Generati-
on Sandwich reagiert entsprechend emp-
findlichdarauf: InUmfragengeben80Pro-
zent regelmäßig an, „stark gestresst“ zu
sein. Alte und Junge zu versorgen und
dannauchnochdas eigeneLeben zu finan-
zieren, das bringt manchen an seine Gren-
zen. Dazukommt die Sorge, imAlter zuwe-
nig Geld zu haben. Jeder zweite der 30- bis
59-Jährigen, so eine Umfrage des Instituts
für Demoskopie Allensbach aus dem ver-
gangenen Jahr, rechnet damit, später sehr
hart sparen zu müssen.
Dass man für seine Eltern sorgenmuss,
war schon immer so. Das regelt der unge-
schriebeneVertragderGenerationen, es ge-
hört sich in aller Regel auch nicht anders.
Das Urteil des Bundesgerichtshofs dürfte
dieÄngstederMenschenausderGenerati-
onSandwich aber verstärken. DenndieGe-
wichte der Generationen haben sich konti-
nuierlich verschoben. Nicht nur der Main-
zer Soziologe Stefan Hradil warnt ange-
sichts der Veränderung der Altersstruktur
längst vor einer „Gefährdung der sozialen
Sicherung“. Er spricht von einem „Alten-
quotienten“: Mit diesem lässt sich errech-
nen, wie viele Menschen, die älter als 65
sind, auf hundertMenschen imerwerbsfä-
higen Alter kommen. 2010 entfielen auf
drei jüngere Menschen (20 bis 65 Jahre)
noch zwei Ältere. Im Jahr 2060 werden in
Deutschlandvoraussichtlichdrei berufstä-
tigeMenschen drei zu versorgenden Rent-
nern gegenüberstehen. „Das wachsende
Missverhältnis zwischen weniger Zahlern
und mehr Menschen, die unterstützt wer-
den müssen, bedroht die Alters- und Ge-
sundheitssicherung“, sagt Hradil.
Gerichte. Es ist ein Geben und Nehmen,
mitunter ein Hauen und Stechen inner-
halb der Familien. Doch auch das ist schon
höchstrichterlich geregelt worden. Erst im
vergangenen Jahr hat der Bundesgerichts-
hof entschieden, dass Eltern zuerst das
Existenzminimum ihrer Kinder sichern
müssen, bevor sie Geld für die eigene Al-
tersversorgung abzweigen. In diesem Fall
wurde ein getrennt lebender Vater dazu
verpflichtet, die Rate für seine Kapitalle-
bensversicherung zu reduzieren, um den
Unterhalt für seine Tochter zahlen zu kön-
nen. Der Anspruchder Siebenjährigenhat-
te Vorrang.
Wer hat wem wie viel zu zahlen, wenn
manMitgliedeiner Familie ist –oder es zu-
mindest einmalwar?DieRangfolgeder Fa-
milienmitglieder hat das neue Gesetz zum
Unterhaltsrecht klar geregelt: An erster
Stelle beimAnspruch auf Unterhalt stehen
immer die Kinder. Vor der Reform von
2008 teilten sich Kinder diese Stellungmit
geschiedenenundaktuellenEhegatten. An
zweiter Stelle stehenMütter und Väter, die
Kinder betreuen. Erst andritter Stellekom-
men Ex-Ehepartner, deren Kinder entwe-
der schon groß sind, oder die keine Kinder
haben. Werden Väter oder Mütter nun
auchnoch für die Pflegekosten ihrer Eltern
herangezogen, gilt: Es muss ihnen genü-
gend Geld für den eigenen Lebensunter-
halt bleiben. Sicherheit bei Streit umfamili-
äreFinanzen soll außerdemdieDüsseldor-
fer Tabelle geben. Sie wird alle zwei Jahre
aufgestellt. Seit 50 Jahren regelt sie, wie
viel Unterhalt denKindern getrennt leben-
der Eltern zusteht. Bei einem Netto-Ein-
kommen bis 1500 Euro sind es zwischen
317 Euro für Kleinkinder und 488 Euro für
Volljährige. Gutverdiener bis 5100 Euro
müssen zwischen 508 und 781 Euro pro
Kind zahlen.
Kinder können nicht nur –wie nun vom
Bundesgerichtshof festgestellt – für die
Pflegekostenungeliebter Elternhaftbar ge-
machtwerden. Liegen sie alsElternwieder-
um mit ihren Kindern im Clinch, können
diese ebenfalls gerichtlich Zahlungen ein-
klagen–was häufiggenuggeschieht. Para-
graf 1601 desBürgerlichenGesetzbuchs re-
gelt, dass Vater und Mutter die Pflicht ha-
ben, ihrem Nachwuchs die erste Ausbil-
dung oder das Studiumzu finanzieren. Für
ewigeBummler abermüssen sienicht zah-
len. Nach geltender Rechtsprechung dür-
fen sie den Dauerauftrag löschen, wenn
Studentenmehr als einmal das Fachwech-
seln. Orientierung gibt auch hier die Düs-
seldorfer Tabelle: Einem volljährigen Stu-
denten stehen 670 Euro zu.
Das deutsche Recht ist im internationa-
len Vergleich durchaus rigoros, was die
PflichtenderKinder gegenüber denAltvor-
derenangeht. InSkandinavienoder denan-
gloamerikanischen Ländern beispielswei-
se haben Eltern keine Unterhaltsansprü-
che.
Ob es schöne oder schreckliche
Jahre waren, darüber lässt sich im
Unterhaltsstreit kaum rechten
Die Zahl der Pflegefälle
steigt in Deutschland
von Jahr zu Jahr an
Weil Richter so etwas kaum ermitteln
können, sagt der BGH: Entscheidend ist,
wann der Kontakt abgebrochen wurde.
Hier war der Vater immerhin 18 Jahre bei
seinem Sohn, also in jener Lebensphase, in
derKinder eine „besonders intensiveelterli-
che Fürsorge benötigen“. Ob es schöne oder
schreckliche Jahre waren, darüber lässt
sich imUnterhaltsstreit kaum rechten. Ge-
wiss, der Kontaktabbruch sei eine „Verfeh-
lung“, sagt der BGH – aber eben keine
„schwere Verfehlung“, weil der Junge schon
volljährig war. Und die Enterbung spiele in
diesem Zusammenhang überhaupt keine
Rolle. Mit seinemGeld kann jeder machen,
Es passt immer weniger zusammen:
Auf der einen Seite geht die Gesamtbevöl-
kerung in Deutschland zurück, auf der an-
deren Seite nimmt die Zahl der Pflegebe-
dürftigenzu.Wurden2005noch2,1Millio-
nen gezählt, waren es fünf Jahre später
schon 2,4 Millionen. Das Bundesamt für
Statistik rechnet für 2020 bereits mit
2,9 Millionen Pflegebedürftigen, für 2030
sogar mit 3,4Millionen.
Der Satz „Es bleibt in der Familie“ soll
da Vertrauen und Sicherheit ausdrücken.
Die finanziellen Folgen der Verwandt-
schaft sind jedoch tägliches Geschäft der
ulrike heidenreich
AUSSENANSICHT
W
ir haben uns daran gewöhnt, als
Die Krankenkassen sagen unverhohlen,
dass sie sichvondiesemSystemEinsparun-
gen durch die kürzere Behandlungsdauer
erwarten. Allerdings hat sich die mittlere
Dauer der Krankenhausaufenthalte in den
vergangenen 20 Jahren als Erfolg der
Psychiatriereform der 1970er-Jahre be-
reitsmehr als halbiert. Wir wissen aus die-
ser Zeit, dass dies ohne Qualitätseinbußen
nicht durch Sparmaßnahmen zu erreichen
ist, sondern im Gegenteil nur durch mehr
Personal in den Krankenhäusern und
durch einen Ausbau ambulanter Behand-
lungsangebote. Solange Patienten auf ei-
nen ambulanten Therapieplatz drei bis
sechs Monate warten müssen, solange die
Zahl niedergelassener Psychiater gerade
in ländlichen Regionen stetig abnimmt,
kanneineVerkürzung stationärer Behand-
lungen gerade bei schwer kranken Patien-
tennur auf KostenderGesundheit der Pati-
enten gehen.
Eswürde die treffen, die ammeistender
Unterstützung durch das Gesundheitssys-
tem bedürfen, die chronisch Kranken, de-
renKrankheit ihr Lebengefährdet, dieNot-
fallpatienten, die auf eine fachlich kompe-
tenteBehandlung in ihrer Regionangewie-
sen sind, und die Patienten der Kinder-
und Jugendpsychiatrie, derenBehandlung
am wenigsten standardisierbar ist, am
meisten kostet, und uns doch besonders
viel wert sein sollte. Zu Recht hat sich nun
die Betroffenenorganisation Pandora aus
Nürnbergmit einer Petition andenBundes-
tag gewandt, umÄnderungen des Systems
zu erreichen.
Es gibt Alternativen zu PEPP und Fall-
gruppierung. Es gibtMöglichkeiten, diebe-
grenzten Mittel so zu verteilen, dass die
Wölfe nicht den Letzten beißen oder den,
der Hilfe suchend nachts vor der Tür steht.
Medizinische und ökonomische Fachleute
haben gezeigt, dass Tagesentgeltemöglich
sind, die demBedarf des Patienten imVer-
lauf der Behandlung tatsächlich entspre-
chen und sich auch für Übergänge in die
ambulanteBehandlung eignen. UnddieRe-
gierung hat im Koalitionsvertrag verspro-
chen, sich der Probleme anzunehmen, al-
lerdings wurde sie nicht viel konkreter als
das delphische Orakel. Was es jetzt
braucht, ist das intensiveGespräch der Po-
litik mit den Fachleuten, um einenWeg zu
finden, unser leistungsfähiges System der
Versorgung psychisch kranker Menschen
zukunftsfest zu machen, anstatt es durch
Sparbürokratie zu ruinieren.
Kommen Sie mit in die Fallgruppe?
Patient in Deutschland amKran-
kenhauseingangzumFall zuwer-
den. Tröstlich ist zunächst, dass wir da
nicht alleinebleiben, dennwir kommen zu-
sammen mit anderen in eine Fallgruppe.
Allerdings nicht, um uns persönlich ken-
nenzu lernenunduns über unsereErkran-
kungauszutauschen–wir kommenmit an-
deren in eine Fallgruppe, weil rein statis-
tisch betrachtet der Behandlungsaufwand
ähnlich ist und deshalb das Krankenhaus
für uns von der Krankenkasse jeweils das
gleicheGeld bekommt. Diese Fallpauscha-
le ist unabhängigdavon, wie langewir blei-
benundwas imEinzelnenmit uns imKran-
kenhaus geschieht. Deshalb bemüht sich
das Krankenhaus, uns möglichst schnell
mit möglichst geringem Aufwand erfolg-
reich zu behandeln.
Das 2003 eingeführte Fallpauschalen-
system namens DRG (diagnosis related
groups) belohnt Krankenhäuser ökono-
misch für Leistungen, deren Umfang ein-
deutig definiert ist, zum Beispiel bei plan-
baren Operationen oder Untersuchungen.
In solchen Fällen passen Leistung und
Preis zueinander, und in solchenFällenhat
dasDRG-SystemdieQualität durchaus ver-
bessert. Die Fallpauschale wird aber zur
Falle, wenn die Behandlung nicht vorher
geplantwerdenkann, wennnicht der tech-
nisch optimierbare Behandlungsprozess
imVordergrund steht, sondern viel Pflege,
Zuwendung, sozialeUnterstützung undoft
Die Sparbürokratie könnte die deutsche Psychiatrie ruinieren und
denen schaden, die Hilfe am nötigsten haben.
Von Thomas Pollmächer
einfach viel Zeit nötig sind. Diese Zeit ver-
rinnt, die Kosten, die Pauschale bleiben.
Der Fall wird zumLanglieger, so der Fach-
ausdruck für krankenhausökonomische
Aussichtslosigkeit. Ist die Pauschale ver-
braucht, erhält das Krankenhaus nur noch
einminimales Entgelt pro Tag, das keines-
fallsdieKostendeckt. Daspassiert beiNot-
fallpatienten, die unerwartet und unge-
plant ins Krankenhaus kommen und bei
MenschenmitmehrerenkompliziertenEr-
krankungen, also vor allem bei Älteren.
Und es gibt noch eine Gruppe von Men-
schen, derenBehandlung sichnicht so pla-
nen lässt, wie die Reparatur eines Automo-
bils: Menschen mit Depressionen, Burn-
out, Angststörungen, Schizophrenie, De-
menz – kurz, Menschen mit psychischen
Erkrankungen. Sie kommen nicht zum
Check-up oder zur Just-in-Time-Reparatur
eines verschlissenen Meniskus ins Kran-
kenhaus, sondern meist am Ende ihrer
Kräfte, in akuten, schweren Krisen. Man-
che dieser Krisen sind tatsächlich inner-
halb weniger Tage vorbei, andere dauern
aber vieleMonate. DieseMenschenbenöti-
gen Ruhe, Raum, Zeit, Zuwendung in sehr
individueller Weise; manche sogar über
Wochen hinweg eine Person, die sich aus-
schließlich um sie kümmert. Manchen ist
mit einer Gruppentherapie zu helfen. Kei-
nem allerdings mit einer Fallgruppierung.
DeshalbhatmandemWolf einenSchafs-
pelz übergeworfen: Wie im DRG-System
werdenFallgruppengebildet. Eswirdaller-
dings keine Pauschale bezahlt, sondern je
nachFallgruppe einTagesentgelt. DieseTa-
gespauschale ist anfangs relativ hoch und
wird kontinuierlich geringer, je länger der
Patient im Krankenhaus bleibt, ganz egal
wie schlecht es ihm nach Monaten noch
geht, ganz egal wie viel Therapie oder Zu-
wendung er dannnoch braucht. Dieses Ta-
gesentgelt kannbis auf einViertel desAus-
gangswertes fallen.
Da sind sie wieder, der Langlieger und
diekrankenhausökonomischeAussichtslo-
sigkeit. Das PEPP-System, so der Name
desWolfs mit demnetten Äußeren, drängt
die Psychiatrien also in die gleiche Rich-
tungwie dieWolfsmutter DRG-Systemdie
anderen Kliniken. Um wirtschaftlich er-
folgreich zu sein,müssendieKrankenhäu-
ser möglichst viele Patienten standardi-
siert und in kurzer Zeit behandeln, um die
mangelnde Finanzierung komplizierter
lang dauernder Behandlungen und unge-
planter Notfallpatienten auszugleichen.
Möglichst viele Patienten
möglichst kurz behandeln –
dann lohnt das Geschäft
Doch genau dies wird derzeit versucht.
Seit 2013 wird in den psychiatrischen und
psychosomatischen Krankenhäusern eine
neue Art der Vergütung erprobt, die wei-
land Gesundheitsminister Daniel Bahr ge-
gen den Widerstand von Fachleuten, Pati-
enten, Angehörigen und der Krankenhäu-
ser eingeführt hat. Gerne hätte man wohl
das DRG-System einfach auf die Psychia-
trie übertragen – doch dagegen stehen ge-
setzliche Regelungen aus Zeiten, als Ge-
sundheitspolitiker sich noch an die völlig
unterfinanzierte Verwahrpsychiatrie der
Nachkriegsjahre erinnerten.
Thomas Pollmächer,
54,
Psychiater und Psychothe-
rapeut, ist Direktor des
Zentrums für psychische
Gesundheit im Klinikum
Ingolstadt und Vorsitzen-
der des Verbandes der
Leitenden Ärzte psychia-
trischer Fachkliniken.
FOTO: OH
 DEFGH Nr. 36, Donnerstag, 13. Februar 2014
3
DIE SEITE DREI
HF2
Wo leben wir?
In Sachsen-Anhalt überfallen drei Männer eine Familie, die aus Syrien fliehen musste.
Es fließt viel Blut. Fast noch schockierender: das Verhalten der deutschen Behörden danach
von anne
tte rame
lsberger
Sachsen-Anhalt wirbt für sich mit dem
Slogan „Das Land der Frühaufsteher“.
Doch es hilft nicht, früh aufzustehen,
wennman imDienst die Augen fest vor der
Wirklichkeit verschließt. Für die Polizei
war der Angriff von Eisleben offenbar eine
Schlägerei von Betrunkenen. Die Polizei
hatwichtigeZeugenweggeschickt, dieVer-
letzungen der Opfer nicht vom Rechtsme-
diziner untersuchen lassen. Die Polizei hat
die Verdächtigen noch nicht einmal sofort
festgenommen, sonderngemütlichgewar-
tet, bis sie sich selber stellten. Da hatten sie
viel Zeit, um sich abzusprechen. Bei der
Vernehmunghat diePolizei dannkeine ein-
zige kritische Frage gestellt: zum Beispiel,
warumsie nachder Tat geflohensind?War-
umsie ihren Schlagstock versteckt haben?
Warum sich alle Zeugenaussagen ihrer
Freunde bis in die Wortwahl gleich anhö-
ren? Und welche politische Gesinnung sie
haben?
Halle
– Die Angeklagten im Gerichtssaal
des Landgerichts Halle sind sehr ent-
spannt. Lässig zurückgelehnt schauen sie
dem Staatsanwalt zu. Der eine wippt auf
seinem Stuhl, dem anderen fallen fast die
Augen zu. Der dritte nimmt einen Schluck
Red Bull.
Der Staatsanwalt hat gerade gefordert,
die drei ins Gefängnis zu schicken – zwi-
schen knapp drei und knapp vier Jahren.
Das ist übersichtlich–dafür, dass sie einen
jungen Mann ins Koma geprügelt und
einer Familie die Heimat und die Gesund-
heit genommen haben.
Unddoch ist dieses Plädoyer des Staats-
anwalts sehr viel mehr als eine Pflicht-
übung: Es ist eineEntschuldigung für eige-
nes Versagen. Dafür, dass Polizei und
Staatsanwaltschaft sich auch 20 Jahre
nach Hoyerswerda und Solingen noch im-
mer einreden, dass es keine Rechtsradika-
len gibt in Deutschland, sondern dass all
diese Schläger dumme, betrunkene Jungs
sind, die zufällig auf Ausländer treffen.
Ohne politischen Hintergrund.
Die Angeklagten Erik S., Ronny G. und
Marcel H. haben an einem warmen April-
tagdes Jahres 2012 auf einerKirmes inEis-
leben bei Halle eine Familie von hinten
überfallen und zusammengeschlagen,
eine Familie, die seit 17 Jahren in Eisleben
zu Hause war. Fleißige Leute, die älteste
Tochter Arzthelferin, der Sohn Abitur, die
jüngste Tochter kurz vor dem Abitur. Das
Einzige, was an dieser Familie auffällt: Sie
spricht Arabisch, wenn sie unter sich ist.
Die Familie ist vor 20 Jahren aus Syrien ge-
flohen. Längst sind sie Deutsche gewor-
den. Ihr Deutsch ist besser als das der drei
Angeklagten. Die drei, bulldozergleicheTy-
pen mit Tätowierungen bis zu den Ohren,
habender Familie bei demÃœberfall zugeru-
fen: „Das habt ihr davon, ihr Ausländer“
und „Scheiß-Ausländer“.
Das bedeutet für die Polizei in Sachsen-
Anhalt noch nicht, dass es sich um eine
fremdenfeindliche Tat handelt.
„Diese Familiehat sich integriert und ist
vertriebenworden“, sagtOberstaatsanwalt
Thomas Westerhoff nun: „Selbst die Frau-
en wurden geschlagen.“ Ganz klar sei das
für ihn eine von Fremdenfeindlichkeit ge-
triebene Tat. Das hat seine Behörde lange
anders gesehen.
AmMontag wird es das Urteil
geben. Es geht wohl nur noch
um etwas Schadensbegrenzung
„Die Polizei hat die Aussagen der Be-
schuldigten aufgenommen wie ein Ton-
bandgerät“, sagt Opferanwalt Sebastian
Scharmer. Der Beamte, der die Verdächti-
gen verhört hat, gilt als guter Mann, seit
15 Jahren arbeitet er beim Staatsschutz.
Das sind die Leute, die sich am besten mit
politischenDelikten auskennen sollen. Vor
Gericht wurde er gefragt, ob er eine Abfra-
ge beim polizeilichen Informationssystem
Inpol gemacht habe, wo Tausende Straftä-
ter registriert sind – um den Hintergrund
der Verdächtigen abzuklären. Nein, sagte
der Mann. Und was ist mit dem Informati-
onssystemNadis, in dem die Verfassungs-
schützer Hinweise auf Extremisten spei-
chern? Nadis, das kenne er nicht, sagte der
Staatsschützer. Das ist so, alswennder Ver-
kehrspolizist nichts von der Verkehrssün-
derdatei in Flensburg wüsste.
„Das Verhalten der Ermittlungsbehör-
denwird Ihnen vier, fünf JahreHaft erspa-
ren, meine Herren“, wendet sich Anwalt
Scharmer an die drei Angeklagten: „Die
Angeklagtenkönnen sich für dieArbeit der
Behörden bedanken.“
Nun ist es an Richterin Ursula Mertens,
hier Recht zu sprechen. Wenn etwas so
grundlegend schiefgelaufen ist wie in die-
sem Fall, ist es schwer, mehr zu leisten als
Schadensbegrenzung. 21 Verhandlungsta-
ge hat sich das Gericht um Aufklärung be-
müht. Sehr akkurat. Mit vielen Zeugen,
mit den Opfern. Die Familie war da. Sie
kann nicht verstehen, warum man ihr die
Heimat nahm. Peer Stolle, der Anwalt, der
die Tochter vertritt, sagt, die Angeklagten
zeigten „pure Menschenverachtung“: „Sie
haben hier Witze gemacht, haben gelacht,
als wenn es sie nichts angeht. Ihr einziges
Motivwar: DieFamiliewar nichtweiß.“ Sei-
ne Mandantin frage immer wieder: „War-
um? Woher kommt dieser Hass, auf Men-
schen, die man gar nicht kennt?“
Manmuss noch eine weitere Frage stel-
len: Warum erkennt die Polizei diesen
Hass nicht? Warum tut sie ihn ab wie lästi-
gesBeiwerk, das nichts zur Sache tut?War-
um hat sich immer noch nichts getan im
Kampf gegen den Rechtsextremismus?
Zumindest die Staatsanwaltschaft Halle
musste danach sehr viele Berichte an die
Justizministerin liefern. Es gibt jetzt mehr
Weiterbildungen für Staatsanwälte. Sie
müssen jetzt regelmäßig berichten, was
bei ihnen anliegt. Gehen musste keiner.
Aber vielleicht hat der Fall Eisleben et-
was bewirkt. InMagdeburg ist gerade eine
Horde Rechtsradikaler angeklagt worden.
Neun Mann hatten im September den tür-
kischen Besitzer eines Dönerstands halb
tot geschlagen. Ein Junggesellenabschied,
mit einem kleinen Ausrutscher, sagen die
Angeklagten. Diesmal brauchte die Staats-
anwaltschaft nur zwei Monate für die
Anklage. Diesmal klagte sie auch wegen
versuchten Totschlags an. Aber niedrige
Beweggründe – wegen Rassismus? Nicht
für die Staatsanwaltschaft. Obwohl die
meisten der neun Täter bekannt sind. Man
kann in Sachsen-Anhalt den Rassismus
nur sehr schwer erkennen.
AmMontagwird inHalle das Urteil über
die Täter von Eisleben gesprochen. Am
Dienstagbeginnt inMagdeburgder nächs-
te Prozess.
Seit Prozessbeginn im Sommer
2013 machen sich die Täter über
ihre Opfer unverhohlen lustig
Westerhoff spricht die Angeklagten di-
rekt an: „Ich habe keine Reue gesehen,
nichts. Der Angeklagte S. hat einem Opfer
in der Klinik noch den Stinkefinger ge-
zeigt.“ Der Staatsanwalt saugt die Luft ein.
„Es ist fürchterlich.“
Mankanndasmit Recht fürchterlich fin-
den. Es ist aber auch ziemlich fürchterlich,
was nach dieser Tat geschah.
Die Staatsanwaltschaft Halle hat diese
Tat neunMonate lang liegen lassen. Sie hat
noch nicht einmal Haftbefehle gegen die
Täter beantragt, sie hat, als die
Süddeut-
sche Zeitung
am 21. Dezember 2012 nach-
fragte, schnell, zwischen Weihnachten
und Neujahr, eine Anklage zusammenge-
schustert –und sie nicht beimLandgericht
eingereicht, sondern beim Amtsgericht.
Das ist für kleinere Sachen zuständig. Es
kann Strafen bis zu zwei Jahren verhän-
gen. Auf keinen Fall aber Strafen, wie sie
der Staatsanwalt jetzt fordert. Wenigstens
hat das Amtsgericht Eisleben den Fall
dann ans Landgericht verwiesen.
Nun steht hier Staatsanwalt Westerhoff
und versucht, den Ruf seiner Behörde zu
retten. Er ist der Vorgesetzte der Staatsan-
wältin, die in diesem Fall keinen Hand-
lungsbedarf sah. Der Chef gibt in seinem
Plädoyer zu, dassdas Verfahrenviel zu lan-
ge gedauert hat. Und dass es schwierig zu
begründen gewesen wäre, die Tat als ver-
suchten Totschlag anzuklagen und nicht
nur als gefährliche Körperverletzung. Das
heißt: Mit etwas Bemühen hätte man in
dem Überfall auch ein Tötungsdelikt se-
hen können. Wer das Selbstbewusstsein
von Staatsanwälten kennt, weiß, was diese
Worte für Westerhoff bedeuten. Es ist ein
Canossagang.
Seit dem Sommer 2013 läuft nun dieser
Prozess gegen die drei Männer, unter der
Ronny G. vor Gericht in Halle an der Saale. Er gehört zu den drei Männern, die im April 2012
auf dem Frühlingsfest „Eisleber Wiese“ über eine Familie herfielen. Mehrere Familienmitglieder wurden dabei
schwer verletzt.
FOTO: JAN WOITAS/DPA
umsichtigen, wachenRichterinUrsulaMer-
tens. Doch die drei Angeklagten tun so, als
ginge sie das alles nichts an. Der Hauptan-
geklagte Erik S. gibt kurz zu, dass er im
Suff zugeschlagen hat. Ansonsten könne
er sichannichtsmehr erinnern. SeinKum-
pel RonnyG. sagt, er habe nur gesehen, wie
sein Freund von Ausländern angegriffen
wurde und sei ihmzuHilfe geeilt. DasGlei-
che sagt auch Marcel H. Mit so was kom-
men sie sonst durch in den Amtsgerichten
des Landes. Da reicht es, dassman betrun-
ken war und sich an nichts erinnern kann.
Und alle Kumpels sagen dann das Gleiche.
Das war hier auch so. Da gaben die
Freunde der Angeklagten zu Protokoll,
dass ihnen ihr Freund „blutüberströmt“
entgegenkam. Es war das Blut des Opfers.
Dass die Ausländer angefangen hätten.
Dabei hatten die Zeugen noch erklärt, sie
hätten nichts gesehen. Und dass sich die
Tochtermit demStöckelschuhgewehrt ha-
be. Da warf die Richterin sarkastisch ein:
„UnddieFraumit demStöckelschuhkonn-
te Ihre drei Freunde plattmachen.“
DieAngeklagtenhabendenganzenPro-
zess über kein Wort des Bedauerns geäu-
ßert. ImGegenteil: Sie haben die Opfer, als
sie im Zeugenstand waren, noch ange-
grinst. Als dieMutter der Familie, eine zier-
liche, schmale Frau, klagte, sie habe im-
mer noch Schmerzen, da rief ihr Marcel H.
zu: „Vielleicht sind es ja Zahnschmerzen.“
Und die Tochter, die seit demÜberfall über
Angstzustände und Schlaflosigkeit klagt,
zischte er an: „Ich kann auch nicht schla-
fen.“Als dieAngeklagtendas letzteWort be-
kamen, erklärte Erik S. nur: „Nein, danke.“
Ronny G. sagte: „Ich war nicht beteiligt.“
Marcel H. nuschelte: „Gar nüscht.“
Eric S. und Ronny G. schlendern jeden
Morgen lässig ins Gericht. Sie sind auf
freiem Fuß. Sie zeigen eine gelassene Ge-
wissheit, dass ihnen nichts passierenwird.
Sie nehmen ihre Gerichtstermine wie eine
lästige, aber nicht ernst zu nehmende
Unterbrechung ihres Alltags hin. Während
ihre Opfer wegziehen mussten und sich in
BerlinmühsamüberWasser halten, haben
sie ihr Leben fröhlich weitergeführt. Ron-
ny G. ist Familienvater geworden. Erik S.
hat das sogar zweimal geschafft, innerhalb
von zwei Monaten bekamen zwei Frauen
von ihm ein Kind. Er selbst lebt weiter bei
seinerMutter und lässt sichvon ihr dieWä-
sche machen. Marcel H. konnte sich nicht
ganz so frei entfalten, er sitzt derzeit in
Haft – wegen einer anderen Tat.
„Das mag für den einen oder anderen
jetzt ein Affront sein, aber mein Mandant
ist freizusprechen“, sagt der Anwalt von
Marcel H. Der Mandant ist ein Mann, des-
sen Aggressivität aus allen Poren strömt,
seinAnwaltmuss ihn immerwieder beruhi-
gen, wenn er im Gericht aufbraust, neben
ihmsitzt ein schwer bewaffneter Justizbe-
amter.Marcel H. wird beschuldigt, sich auf
die Mutter der Familie gestürzt, sie an den
Haaren zu Boden gerissen und ihren Kopf
auf denBoden geschlagen zu haben, bis sie
bewusstloswar. Der Anwalt sagt, seinMan-
dant sei nur seinemFreundEric zuHilfe ge-
eilt. Sein Mandant habe nicht wissen kön-
nen, dass seinFreunddieFamilie angegrif-
fen habe. Woher denn? Allenfalls handele
es sich hier um einen Notwehrexzess. Von
politischer Haltung: keine Spur.
das Wort Ehre erspähen. Ganz heißt der
Spruch auf seiner Brust „Meine Ehre heißt
Treue“, der Wahlspruch der SS. Er selbst
hat seinenOberkörper auf Facebookausge-
stellt: tätowiert mit Adlerschwingen, Kel-
tenkreuz und dem Spruch der amerikani-
schen Rassisten „White Pride“. Kein Aus-
länderhass?
Erik S., ein Mann von 1,85 Meter und
sicher 100KilogrammGewicht, der sichals
Erster auf die Familie stürzte? „Ein einma-
liger, schlimmer Ausrutscher“, sagt sein
Verteidiger. DerMannsei in seiner Persön-
lichkeit noch nicht ausgereift. Der Anwalt
geht dialektisch an die Sache heran: Wenn
Erik S. in Haft müsse, dann verliere er die
Arbeit, und dann könne er auch kein
Schmerzensgeld an die Opfer zahlen. Im
Umkehrschluss: Ein mildes Urteil komme
den Opfern zugute. Nur: Schmerzensgeld
hat Erik S. nie angeboten.
Auch dieser Anwalt erwähnt natürlich
nicht, dass sein Mandant einen Facebook-
Account hat, auf demAdolf Hitler abgebil-
det ist mit dem Spruch: „Also Gas geben
konnte er.“
Alle diese Indizien haben die Anwälte
der Opferfamilie gesammelt. Sie habendie
Facebook-Accounts gesichert. Sie haben
beantragt, dieTätowierungenzubegutach-
ten. Der Staatsanwalt hat sich ihren Anträ-
gen angeschlossen. Eine Art tätige Reue,
die Polizei hatte das nicht gemacht.
Ausländerhass? Aber woher denn.
Dabei reicht ein Blick auf die
Facebook-Seiten der Angeklagten
Dann tritt der Anwalt von Ronny G. auf.
Auch er sagt, sein Mandant müsse freige-
sprochen werden. Ronny G. habe mit sei-
nem Schlagstock „nur eine Abwehrhal-
tung eingenommen, keine Schlaghaltung“.
Und auf keinen Fall könne Ausländerhass
das Motiv für die Tat gewesen sein, denn
„dannmüsstendiedrei jedesMal,wenn sie
einenAusländer sehen, hinrennen und ihn
zusammenschlagen“.
Ausländerhass? Lebensfremd.
Was er nicht sagt: Auf demFacebook-Ac-
count vonRonnyG.marschierendieKapu-
zenmänner des rassistischen Ku-Klux-
Klans. In Ronny G.s Ausschnitt kann man
Palmsonntag
An einem einzigen und überaus beschaulichen Ort in Sotschi darf während der Olympischen Spiele demonstriert werden. Wenn es genehmigt wird. Eine Lokalposse
von joh
annes au
müller
Bürger von Enteignungen, Aktivisten be-
klagenRepressionenundwillkürliche Ver-
haftungen. Es gibt hier sehr viele Gründe
für Proteste. Doch es ist sehr schwer, die-
sen Protest vorzubringen.
Der Druck auf die Aktivisten in den ver-
gangenen Monaten war immens, manche
habenSotschi fürdieZeit der Spiele verlas-
sen. Andere sind geblieben, sie wollen die
Chance nutzen, dass ihre Stadt im Zen-
trum der Weltöffentlichkeit steht. Wer
nicht in Sotschi wohnt und keinen Besu-
cherpass hat, darf sich ohnehin jetzt nicht
in der Stadt aufhalten. Ursprünglich hatte
Putin verfügt, dass es während der Spiele
nirgendwo in der Stadt Proteste geben
darf. Dann hat er im Januar diesen kleinen
Park imOrtsteil Chosta als Sonderprotest-
zone erlaubt. Für angemeldete Proteste,
versteht sich. Betreutes Protestieren. Circa
15Kilometer beziehungsweise zwei Statio-
nen mit der Bahn vom Olympischen Park
entfernt liegt der „Park des Sieges“. „Spea-
ker’s corner“ nennen das die Verantwortli-
chen vomOrganisationskomitee.
Zu den Lebenslügen der olympischen
Bewegunggehört die angebliche politische
Neutralität der Spiele. Politische Neutrali-
tät sieht in Sotschi – zumBeispiel – so aus,
dass bei der Eröffnungsfeier die letzten
vier Fackelträger allesamtDuma-Abgeord-
nete der Regierungspartei Einiges Russ-
land sind. Oder dass sich nach dem ersten
russischen Spiele-Gold im Teamwettbe-
werb der Eiskunstläufer Putin in seinem
sowjetroten Overall mitten unter den Sie-
gern befindet, ein Handschlag für den al-
ten Helden Jewgenij Pluschenko, ein Bussi
für die junge Julia Lipnizkaja, den neuen
LieblingderNation. UndpolitischeNeutra-
lität sieht so aus, dass sich der Protest in
den Schatten der Autobrücke im „Park des
Sieges“ zu verziehen hat. Wenn der Protest
überhaupt protestieren darf.
Das Rathaus der Stadt Sotschi liegt an
einem anderen kleinen Platz, in der Mitte
wunderschöne Fontänen, am Rande eine
der vielen Bühnen, auf denen sie während
der Spiele nette Unterhaltung darbieten.
Wer eine Demonstration ausrichten will,
muss sie hier anmelden. Bedingung eins:
Sie darf, gemäß Putins Erlass, nichts mit
denOlympischenWinterspielen zu tunha-
ben. Bedingung zwei: Sie braucht zahlrei-
che Genehmigungen. Erst prüft die Stadt-
verwaltung den Antrag, dazu dann noch
die Polizei, das Innenministerium und der
Geheimdienst FSB.
Die offizielle Auskunft der Stadtverwal-
tung lautet: Zwei Anträge aufDemonstrati-
onenhabe es bisher gegeben. Einemsei zu-
gestimmt worden, ein anderer befinde
sich „imPrüfungsprozess“.
Zugestimmt haben sie dem Antrag der
lokalen Kommunistischen Partei. Am
Samstag vor den Spielenwaren derenChef
Igor Wassiljew und sechs weitere Mitglie-
der in Chosta, so hat es die
Moscow Times
gezählt. Sie wollten auf das Schicksal der
„Kinder des Krieges“ und eine finanzielle
Kampagne zu deren Unterstützung auf-
merksam machen. Doch sieben Kommu-
nisten mit roten Schals sind für Russlands
Machthaber ungefährlich. Gefährlicher ist
schon die „lokale Opposition“, wie der Ver-
treter der städtischen Pressestelle das
nennt. Die Umweltschützer, die enteigne-
ten Bürger, die Vertreter der Oppositions-
partei Jabloko. Für sie kommt zu den zwei
generellen Bedingungen noch eine dritte
hinzu: Mut.
Die Aktivisten fürchten nicht die Zeit
der Spiele, wenn so viele Journalisten in
der Stadt sind. Sie fürchten die Zeit nach
denSpielen. AmkommendenSonntagwol-
len sie dennoch zwei Stunden lang im
„Park des Sieges“ ein Meeting veranstal-
ten, dochdieStadt versucht offenkundig al-
les, umdas zuverhindern. VergangeneWo-
che reichten die Demo-Organisatoren den
Antrag ein, drei Tage später gab es eineAb-
sage:Maximal 100Personendürften an ei-
ner Demonstration teilnehmen, es sei aber
von 500 möglichen Teilnehmern geredet
worden. Die Stadt schlägt dafür ein Tref-
fen vor – zwischen den Protestwilligen
und Vertretern der Stadt, natürlich unter
Ausschluss der Öffentlichkeit.
DieDemo-Organisatorenglauben aller-
dings, dass die Absage aus formalen Grün-
den nicht korrekt war und erwägen, vors
Gericht zu ziehen. Oder einfach so in die
Protestzone zugehen. Da sind sie sichnoch
nicht einig. Aber so richtig glauben sie
nicht daran, dass es am Sonntag zu einer
großen Demonstration kommt.
DieKinder unddieTaubenunddasPlät-
schern des Flüsschens haben den „Park
des Sieges“ in Chosta wahrscheinlich noch
bis zum Ende der Spiele fest imGriff.
Sotschi
– Sie sind stolz hier auf ihre schö-
neNatur, aber der „ParkdesSieges“ imver-
schlafenenStadtteil Chosta ist einganz un-
scheinbares Fleckchen. Auf der einen Seite
stehen ein paar Restaurants, auf der ande-
ren plätschert das Flüsslein dahin, das
ebenfalls Chosta heißt, und Richtung
SchwarzesMeer steht die großeBrücke der
neuen Autostraße, die einen ungemütli-
chen Schatten auf den halben Park wirft.
Dazuein Spielplatz sowie eineGedenktafel
für die Opfer von Tschernobyl und eine für
die Opfer des Zweiten Weltkriegs, das
war’s imWesentlichen. Ein paar Einheimi-
sche kommen hier zum kurzen Spazier-
gang vorbei, ein paar Kinder kritzeln mit
Kreide auf denBoden, unddieTauben freu-
en sich über Brotkrumen.
Ein völlig unspektakulärer Platz also.
Und der Platz, an den die Verantwortlichen
derOlympischenWinterspiele dieMöglich-
keiten zum Protest outgesourct haben.
Wahrscheinlich noch nie hat es vor ei-
nemSportgroßereignis so viele Verfehlun-
gengegebenwie vorWladimir Putins kost-
spieligem Prestigeprojekt in Sotschi. Um-
weltschützer dokumentieren detailliert
die zahlreichen Sünden an der Natur. So-
wohl in der Umgebung der Sportstätten als
auch imZentrumSotschis selbst berichten
Immerhin: Die Kommunistische Partei hat neulich im „Park des Sieges“ tatsächlich
demonstrieren dürfen. Es kamen sieben Menschen.
FOTO: DDP IMAGES/CAMERA PRESS/RIA NOVO
 4
HF2
MEINUNG
Donnerstag, 13. Februar 2014, Nr. 36 DEFGH
HUMANITÄRE HILFE
Das Leiden der anderen
von stef
an kor
nelius
AKTUELLES LEXIKON
Bruttoinlandsprodukt
N
iemand kann behaupten, er
Alle Staatsgewalt, so steht es
imGrundgesetz,gehtvomVol-
ke aus. Alle Wirtschafts- und
Finanzpolitik, so scheint es,
geht dagegen vom Bruttoin-
landsproduktaus:UmdiesemagischeZahl
dreht sich alles. Wenn das Bruttoinlands-
produktnurschnellgenugsteigt,gehtesal-
lenbesser–solautetdieallzueinfachepoli-
tische Losung. Das Bruttoinlandsprodukt
ist eine Zahl aus der volkswirtschaftlichen
Gesamtrechnung. Es misst den Wert aller
Waren und Dienstleistungen, die inner-
halb eines Landes hergestellt werden und
die(diesistwichtig)demEndverbrauchdie-
nen.Nichtberücksichtigtwerdenmithinal-
le Vorleistungen. Denn das Bruttoinlands-
produkt – kurz: BIP – dient dazu, die tat-
sächliche Wertschöpfung zu ermitteln,
den eine Volkswirtschaft erbringt. Ermit-
teltwirddieseZahlimNachhineinvomSta-
tistischen Bundesamt, vorausgesagt wird
sie im Vorhinein von vielen: von Konjunk-
turforschernundBanken,vonderBundes-
bank, der EU-Kommission oder (wie nun
im Jahreswirtschaftsbericht) von der Bun-
desregierung.TaugtdasBruttoinlandspro-
dukt aber tatsächlich als Maßstab für das
Wohlbefinden ganzer Völker? Nein, meint
nicht nur der Wirtschaftsnobelpreisträger
Joseph Stiglitz: Das Glück der Menschen
und auch der Zustand einer Wirtschaft,
sagt er, hänge von noch ganz anderen Din-
genab alsdiesereinenZahl–vonFreuden,
Familie, Beruf, dem sozialen Umfeld. usc
Aber hinter der Schutzverantwortung
versteckt sich der untaugliche Versuch,
das komplexe Gerüst aus Interessen und
Fähigkeiten in eine völkerrechtlich was-
serdichte Handlungsanweisung zu pa-
cken. Auch am 210. Todestag Immanuel
KantstutsichdieWeltschwermitdemRe-
alismusdesRechts.DerRealismusderNa-
tionen reagiert nach wie vor auf andere
Reize – die ältesten der Menschheitsge-
schichte: Macht, Stärke, Selbsterhalt.
AllerdingsgibteseinenPunktimStaa-
tenleben,wodieKatastrophederanderen
zumProblemderGemeinschaftwird.Die-
ser Punkt ist erreicht, wenn die eigene
Souveränität angegriffen ist, wenn der
Frieden im Inneren, die Werte einer Ge-
sellschaft, das Bedürfnis nach Gerechtig-
keitbetroffensind.SyrienundZentralafri-
ka haben sich zu solchen Stacheln im
Selbstverständnis gerade einer westli-
chen Nation entwickelt.
Freilich: Dieses Selbstverständnis ist
von einem dicken Fell eingehüllt. Afgha-
nistan, Irak, die Gewalt im arabischen
Frühling – all das hat zur Abstumpfung
beigetragenundzurAbkehrvon derWelt.
Das bedeutet aber nicht, dass der westli-
che Urinstinkt für Gerechtigkeit blockiert
wäre. Am Ende handelt es sich um eine
Frage der Dosierung – und die scheint in
Syrien und Zentralafrika erreicht zu sein.
Jeder Wunsch nach Intervention muss
von klaren, realistischen Kriterien gelei-
tetsein,vorallemvonderAussichtaufEr-
folg. In Zentralafrika fällt es leicht, Ziele
füreineerfolgreicheInterventionzudefi-
nieren: die Trennung der Konfliktpartei-
en, die Versorgung der Flüchtlinge, even-
tuelldieEntwaffnungderMilizen.Frank-
reich hat bereits die Verantwortung für
die Mission auf sich geladen. Es braucht
nun zügig Hilfe – schneller, als es der be-
häbige EU-Apparat zurzeit erlaubt.
Syrien bleibt das eigentliche Dilemma.
Der richtige Zeitpunkt für eine begrenzte
Interventionistlängstverstrichen.DieDi-
mension des Krieges übersteigt jede Be-
reitschaft zum Einsatz. Aber noch sind
die Optionen nicht erschöpft. Die Politik
der syrischen Schutzmächte schwankt,
sie ist beeinflussbar: in Russland, in Sau-
di-Arabien,inKatar,inIran.Russlandver-
weigertinempörenderVerantwortungslo-
sigkeit nach wie vor jede Resolution zur
humanitären Hilfe. Die Golfstaaten lie-
fern weiter Waffen (während die Welt ei-
ne Fußball-WM in Katar plant). Iran
heischt um internationale Anerkennung.
SolangeesOptionenzurpolitischenInter-
vention gibt, so lange bleibt Syrien auch
die Katastrophe des Westens.
habevonnichtsgewusst.Nie-
mand kann sagen, er habe ja
keine Vorstellung gehabt von
der Gräuel. Der Vorstellungs-
kraft kann nachgeholfen werden. Vom
HäuserkampfinStalingradüberdieBom-
bardierung Dresdens bis zur Belagerung
von Sarajewo gibt es grausame Beschrei-
bungen des menschlichen Leids in einer
sterbenden Stadt. Wer sich von Homs ab-
wendet, der kann das nicht mit Desinter-
esse begründen. Und wer sich morgen an
den Ruanda-Genozid von vor 20 Jahren
erinnert, der darf heute in Zentralafrika
nicht wegschauen.
In Syrien und in der Zentralafrikani-
schen Republik spielen sich die größten
humanitären Katastrophen dieser Tage
ab. Gewalt und Gnadenlosigkeit haben zu
einer Verrohung geführt, die allen
zivilisatorischenErrungenschaftenhohn-
spricht. Homs, die seit anderthalb Jahren
eingeschlosseneStadt,wirdzumSinnbild
des modernen Religionskrieges, der mit
den Waffen vergangener Epochen ge-
führt wird. Und in Zentralafrika endet ein
tief wurzelnder religiöser Konflikt zwi-
schenChristenundMuslimenmitderVer-
treibung und dem Gemetzel von Milizen.
sz-zeichnung: wolfgang horsch
FC BAYERN
Unheilige Allianz
In Syrien und Zentralafrika
spielen sich Katastrophen ab
Allein vergangenen Freitag verließ ein
Konvoi von 500 Fahrzeugen die Haupt-
stadt Bangui. Ein Muslim fiel von der La-
defläche eines Lastwagens und wurde
von einem christlichen Mob verstüm-
melt. Die meisten Muslime haben das
Landwohlverlassen,ihreViertelsindzer-
stört.SiewartenimbenachbartenTschad
auf ihre Gelegenheit. Selbst Amnesty In-
ternational, eigentlich für sanftere Töne
bekannt, fordert das Blauhelm-Personal
derUNzummilitärischenEinsatzauf–ro-
bust, wie es dann heißt. Und angesichts
desSchicksals von Homs und derquälen-
den Friedensgespräche in Genf windet
sich der amerikanische Präsident öffent-
lich: Diplomatie führe wohl zu nichts.
Was also würde helfen?
Historische Erfahrung und selbst die
moderne Interpretation des Völkerrechts
gebieten die Intervention von außen. Die
Schutzverpflichtung der UN, nach den
Balkankriegen zum Prinzip erhoben,
aber anschließend relativiert und inkon-
sequent verfolgt, erlauben den Einsatz
zur Rettung von Zivilisten, zur Trennung
vonKriegsparteien,zur gewaltbewehrten
Schlichtung eines Konflikts.
von
caspar bu
sse
A
didas, Audi und jetzt Allianz – Uli
niert. Und dabei sollte es bleiben. Aus gu-
tenGründenhatsichderkonservativeVer-
sicherer bisher nicht als Gesellschafter im
Sport engagiert und damit direkt Verant-
wortung übernommen. Das ist einfach
nicht das Geschäft der Finanzleute.
Auf den ersten Blick haben die Partner
Allianz und FC Bayern durchaus Gemein-
samkeiten: Sie sind erfolgreich, und zwar
weltweit. Beide wirtschaften auch durch-
aus solide, und das bereits seit Langem.
gen ihn beginnen. Der Bayern-Boss hatte
Steuern hinterzogen und sich selbst auf
offenbar untaugliche Weise angezeigt.
Jetzt droht ihm eine Verurteilung. Nach
den internen, sehr strengen Verhaltensre-
geln der Allianz wäre Hoeneß nicht zu hal-
ten. Seinen Posten als Aufsichtsrat bei ei-
ner Allianz-Untergesellschaft hat er auch
deshalbbereitsgeräumt.AlsneuemGesell-
schafter steht der Allianz nun ein Sitz im
Bayern-Aufsichtsrat zu. Um glaubwürdig
zubleiben,mussderVersichereraufdieAb-
lösungvonHoeneßanderSpitzedesAufse-
hergremiums dringen. Das aber dürfte
schwierig sein, haben sie doch gerade mit
ihm als Partner den Millioneneinstieg ver-
handelt.DerEinflussmiteinerBeteiligung
von 8,33 Prozent ist denkbar gering.
Nicht ausgeschlossen, dass Konzern-
chefMichaelDiekmannauchderunwider-
stehlichen Anziehungskraft der Super-
Bayern erlegen ist und deshalb einen be-
achtlichen Preis für den Einstieg zahlt.
Aber als Versicherungsexperte geht er je-
denTagmitRisikenum.Unddiesindgera-
deimFußballgeschäftabundanschwerzu
kalkulieren.
BLICK IN DIE PRESSE
Hoeneß, Präsident des FC Bayern
München,freutsichüberdiesesdrei-
fache A, das wie ein Triple-A für die beste
Bonität ist. Die drei erfolgreichen Weltun-
ternehmenausBayernsindnichtnurPart-
ner,sondernauchGesellschafterbeimam-
tierendenChampions-League-Sieger.Hoe-
neß jubelt zu Recht: Denn der Einstieg der
Allianz für 110 Millionen Euro ist der bis-
her größte Deal in der Fußball-Bundesliga
und sichert die wirtschaftliche Zukunft
des Klubs ab. So schließt Bayern München
zur europäischen Konkurrenz auf.
Doch der glamouröse FC Bayern Mün-
chen passt nicht zur seriösen Allianz. Der
Einstieg bei einem Fußballverein ist keine
guteInvestitionfürdenVersicherer.DieBe-
teiligung ist auch gar nicht notwendig, um
das bisher durchaus erfolgreiche Marke-
ting fortzuführen. Der Versicherer spon-
sert bereits die Formel 1, hat für viel Geld
die Namensrechte an Stadien gekauft,
nichtnurinMünchen,auchinLondon,Niz-
za, Sydney oder São Paulo. All das funktio-
Das Blatt kommentiert die geplante
Zulassung von genmanipuliertem Mais in der EU:
„Seit Jahren drückt sich Europa beim
Thema Genmais um notwendige Entschei-
dungen herum. Allen voran Deutschland.
Mit Gestaltungswillen und politischer
Verantwortung hat dieses Verhalten
nichts zu tun. (. . .) Genmais ist kein Teu-
felszeug. Langfristig wird auch in Deutsch-
land kein Weg am Genmais vorbeiführen.
Am Ende wird sich auch in dieser Frage
der Markt durchsetzen.“
Ein Problem für den Versicherer
ist die Personalie Uli Hoeneß
Doch während die Allianz einer der größ-
ten Versicherer und Geldanleger der Welt
ist, der durchaus kühl kalkuliert, stets die
Kontrolle haben will und immer sehr zu-
rückhaltend auftritt, ist der FC Bayern
eher ein bodenständiger Mittelständler,
imhochemotionalenundmanchmalvolati-
len Fußball-Geschäft tätig.
Kann das gut gehen? Ein großes Pro-
blem ist schon der Umgang mit der Perso-
nalie Uli Hoeneß. Im März soll vor dem
Landgericht in München der Prozess ge-
Die Zeitung bewertet die bevorstehende
Diätenerhöhung der Bundestagsabgeordneten:
„Die Orientierung an den Einkünften von
Bundesrichtern oder Landräten kann für
sich genommen nicht als maßlos gelten.
Anrüchig ist das Vorhaben aus anderen
Gründen: (. . .) Vor allem aber haben sich
die Parlamentarier ein geradezu obszönes
Altersversorgungssystem gezimmert, mit
Monatsrenten von derzeit bis zu 5600
Euro. Eine derart großzügige Absicherung
passt ganz einfach nicht mehr in die Zeit.“
UNTERHALT DER KINDER FÃœR IHRE ELTERN
Ein Urteil in die falsche Richtung
PROFIL
Barbara Kittelberger, die Münchner evan-
gelischeStadtdekanin,standbislangvoral-
lemaufderSeitedesGuten.EineguteSeel-
sorgerin, sagen die Leute über sie, die aus-
gebildete Paartherapeutin und studierte
Theologin. Eine selbstbewusste Frau in ei-
nemSpitzenamtihrerKirche,heißtesaner-
kennend. Barbara Kittelberger, 59, enga-
giert sich gegen Rechtsextremismus und
AusländerfeindlichkeitundfürdieInitiati-
ve „München ist bunt“; als der Penzberger
Imam Benjamin Idriz in einer evangeli-
schen Kirche reden sollte und es Proteste
dagegen gab, verteidigte sie das Vorhaben.
Sie steht für eine lebensnahe, sozial enga-
gierteweltoffeneGroßstadt-Kirche,istbes-
tensvernetztinsrot-grünepolitischeEsta-
blishment der Stadt, ohne die CSU allzu
sehr vor den Kopf zu stoßen. Und jetzt das.
Bis zu 13 Millionen Euro Anlagevermö-
gendesDekanatshabensichinLuftaufge-
löst, sind verloren, weil der Finanzchef der
Münchner Protestanten in hochriskante
Öko-Anleihen investiert und sich verzockt
hat. Und offenbar hat ihn niemand ausrei-
chend kontrolliert, den selbstbewussten
ehemaligen Banker, der da den Eindruck
erweckte, er (und nur er ) wisse schon, was
er da tue. Weder der Verwaltungschef hat
rechtzeitig eingegriffen noch die Dekanin,
nat München auch übernahm, um es aus
derKrisezuführen.DamalshatteesimKir-
chenamteineschwarzeKassegegeben;die
Verwendung von 22,5 Millionen Mark
konnte zunächst nicht nachgewiesen wer-
den. Das Geld tauchte nach und nach wie-
der auf, ein Untersuchungsausschuss be-
scheinigte aber Kittelbergers Vorgängern
Führungsversagen auf allen Ebenen – das
Geld war wieder da, das Vertrauen, das
wichtigste Kapital der Kirche, aber weg.
DieDekaninhatvielgetan,umdasVertrau-
en zurückzubringen – doch was jetzt ans
Licht kommt, klingt wie die Wiederkehr
des Vergangenen.
VielleichtwargeradedasBarbaraKittel-
bergersFehler:Zusehrsah,wähntesiesich
an der Seite des Guten, als dass ihr Böses
schwante.Die evangelische Kirche ist stolz
auf ihre dezentralen Strukturen, Kontrolle
gilt schnell als Eingriff in die Autonomie.
SievertrautihrenMitarbeitern–undistan-
fällig für den Vertrauensbruch. Sie hat ein
schwieriges Verhältnis zu Geld und Macht:
Von beidem hat sie reichlich, beides ist ihr
aber immer auch unheimlich. Und wenn
dann einer kommt und sagt, er nehme ei-
nem die Sorgen ab, und dann investiert er
auch noch in Öko-Anleihen: Wer sollte da
misstrauen?
von he
ribert p
rantl
I
m Familienrecht ist nichts mehr so
Das Urteil geht in die falsche Richtung.
Unantastbarer Kern des Rechts ist es,
dassdieElterndenKindernUnterhaltleis-
ten. Dass auch Kinder für Eltern zahlen
sollen, steht zwar seit ewigen Zeiten im
Gesetz;esüberfordertaberdieSandwich-
Generation von heute. In einer Zeit,in der
die Ausbildung der Kinder immer länger
dauert und die Alten immer älter werden,
kannnichtnachuntenundobengleicher-
maßen viel und lang bezahlt werden.
Beim finanziellen Zugriff des Staates
auf die Kinder geht es nicht um Stärkung
der Familie, sondern um Entlastung des
Staates. Dies führt dazu, dass alte Leute
keine Sozialhilfe mehr beantragen, weil
sie fürchten, dass der Staat bei ihren Kin-
dern Regress nimmt. Solche Angst darf in
einem Sozialstaat keinen Platz haben.
wie vor fünfzig Jahren. Alles hat sich
geändert, nur eines nicht: der Satz,
dass „Verwandte in gerader Linie ver-
pflichtet sind, einander Unterhalt zu ge-
währen“; Eltern den Kindern, Kinder den
Eltern, Großeltern den Enkeln, Enkel den
Großeltern. Gesetz und Gerichte tun so,
als sei dies naturgegeben, als gehöre das
zum ewig unveränderlichen Kern des
Rechts.Aberdasstimmtnicht,auchwenn
der Bundesgerichtshof soeben dem Ver-
wandtenunterhaltwiederseinenSegener-
teilt hat. Er hat geurteilt, dass der Staat
beim Sohn für die Heimkosten des Vaters
Regress nehmen darf, obwohl die beiden
schon lange keinen Kontakt mehr hatten.
Das britische Blatt kommentiert die Aufnahme
von Gesprächen zwischen China und Taiwan:
„Von diesen Gesprächen werden keine
konkreten Ergebnisse erwartet, entschei-
dend ist das Symbol. 60 Jahre lang waren
die beiden Bevölkerungen mit sehr alten
und engen Beziehungen bitter verfeindet.
China will seinen Anspruch auf Taiwan
keineswegs aufgeben, doch diese gesitte-
ten Gespräche zwischen den zwei Feinden
in Nanjing lassen Hoffnung aufkommen,
dass die Diplomatie siegt.“
Barbara Kittelberger
Prominente Protestantin,
von Geldsorgen geplagt
die letztlich die politische Verantwortung
fürdas Desaster trägt –auchdafür,dasses
nur scheibchenweise öffentlich wird. Und
ein Desaster ist es. Der Limburger katholi-
sche Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst
hat Geld in eine solide gebaute Residenz
verwandelt, man kann sich über sie är-
gern, aber sie ist noch da. In München je-
doch hat sich das Vermögen demateriali-
siert, und die Folgen für die Gemeinden
sind noch gar nicht absehbar.
Besonders bitter ist für Barbara Kittel-
berger, dass sie vor zehn Jahren das Deka-
LOVEPARADE
Die Chance, Frieden zu finden
HERAUSGEGEBEN VOM SÃœDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEUR:
Kurt Kister
STELLVERTRETENDER CHEFREDAKTEUR:
Wolfgang Krach
MITGLIED DER CHEFREDAKTION, INNENPOLITIK:
Dr. Heribert Prantl
AUSSENPOLITIK: Stefan Kornelius;
INNENPOLITIK (STELLV.):DetlefEsslinger, Jan Heidtmann;
SEITE DREI: AlexanderGorkow;
INVESTIGATIVE RECHERCHE: HansLeyendecker;
KULTUR: Andrian Kreye;
WIRTSCHAFT: Dr.MarcBeise, Ulrich Schäfer;
SPORT: KlausHoeltzenbein; WISSEN: Dr. Patrick Illinger;
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Christian Mayer; MEDIEN: ClaudiaFromme;
MOBILES LEBEN: JörgReichle;BEILAGEN: WernerSchmidt;
MÃœNCHEN, REGION UND BAYERN: NinaBovensiepen,
Christian Krügel; Sebastian Beck, Peter Fahrenholz, Kassian Stroh
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(Wirtschaft), Französische Str. 48, 10117 Berlin,
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Str. 47, 01099 Dresden, Tel. (0351) 33 28 81 68; DÃœSSELDORF:
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FRANKFURT: Andrea Rexer, Kleiner Hirschgraben 8,
60311 Frankfurt, Tel. (0 69) 2 99 92 70; HAMBURG: Charlotte
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Karlsruhe, Tel. (07 21) 84 41 28; STUTTGART: Dr.Roman Dei-
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DRUCK:
Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH,
Zamdorfer Straße 40, 81677 München
von b
ernd dör
ries
E
s kommt nicht oft vor, dass ein Ur-
tung vor allem, die oft voller Zweifel wa-
ren, ob so viele Hunderttausend Leute
durch einen engen Tunnel passen, die
dann aber doch die Genehmigungen un-
terschriebenhaben,sichdazudrängenlie-
ßen. Drängeln, ein bisschen Druck aus-
üben ist leider kein Straftatbestand.
Deshalb muss nun in Duisburg ver-
suchtwerden,eineandereArtvonGerech-
tigkeit zufinden,eineumfassendeAufar-
beitung des Geschehens. Darum haben
sie sich bisher gedrückt in der Stadt und
tun es letztlich bis heute, verweisen auf
laufendeErmittlungen.Diesindnunaber
erst einmal zu Ende, und für die Stadt be-
steht nun die Chance, endlich einen Weg
zu finden, sich mit dem schrecklichsten
Ereignis ihrer jüngeren Geschichte aus-
einanderzusetzen. Frieden zu finden.
teil schon gefällt ist, bevor der Pro-
zess vor Gericht überhaupt begon-
nenhat.WegenderTotenaufderLovepa-
rade gibt es nun nach dreieinhalb Jahren
quälenden Wartens für die Angehörigen
endlich eine Anklage. Was es nicht mehr
gibt,istdieHoffnungaufumfassendeGe-
rechtigkeit.Diejenigen,diedamalsdiePa-
rade wollten – für ihr eigenes Ego, für ih-
ren eigenen Geldbeutel – sie werden sich
nicht auf der Anklagebank wiederfinden.
Der damalige Oberbürgermeister Adolf
Sauerland nicht und auch nicht der Fit-
nessunternehmer Rainer Schaller.
AngeklagtsindeherkleineLichter,Leu-
te aus dem Mittelbau der Stadtverwal-
matthias drobinski
ISRAEL
Wie Europa Respekt verdient
von
peter mü
nch
V
erbündete müssen nicht immer die
bislang wie üblich nur schwer durchrin-
gen. Aber während die Europäer noch dar-
unterleiden, dasssiesichselbstfast nichts
zutrauen, trauen ihnen die Israelis inzwi-
schen offenbar eine ganze Menge zu.
DasStichwortistein„europäischerBoy-
kott“. Wohin der EU-Parlamentspräsident
Schulz in diesen Tagen auf seiner Reise
durchs multiple Krisengebiet auch
kommt, muss er dazu Stellung nehmen.
Doch so oft er auch beteuert, dass davon
keine Rede sein kann, so wenig wird ihm
Glaubengeschenkt.Klarist,dassdieseFra-
gedieBeziehungenbelastet–dochtatsäch-
lich könnte genau darin auch eine Chance
für die EU liegen, eine eigene Rolle zu fin-
den im Friedensprozess.
den europäischen Positionen Nachdruck
verleihen.
Es ist nicht nur legitim, sondern sogar
geboten, dass die Europäer ihre seit Lan-
gem formulierten Positionen zum illega-
len Siedlungsbau mit Konsequenz verfol-
gen. Ein erster Schritt war die EU-Leitlinie
vom vergangenen Sommer, die beiKoope-
rationsabkommen eine Förderung von
Siedlungen ausschließt. Der nächste
Schritt könnte eine Pflicht zur Kennzeich-
nung von Waren sein, die aus den Siedlun-
gen auf den europäischen Markt kommen.
IneinzelnenMitgliedsländernwirddasbe-
reits praktiziert. Der Kunde kann so ent-
scheiden, ob er mit seinem Kauf den Sied-
lungsbau unterstützen will oder nicht.
Die schlechte Nachricht ist, dass dieser
nunzaghafteingeschlageneWegderEuro-
päerinZukunftzunochheftigerenAusein-
andersetzungen mit dem Verbündeten Is-
rael führen könnte. Die gute Nachricht
aber ist, dass nur so die Europäer ernst ge-
nommen werden. Dies wiederum ist eine
Voraussetzung dafür, dass sich die Bezie-
hungenehrlichentwickeln–und wiederin
eine bessere Ära führen. Schließlich haben
die beiden Verbündeten nach wie vor ein
gemeinsames Interesse daran, die Zwei-
Staaten-Lösung zu verwirklichen. Und das
gemeinsame Ziel ist es, Israels Existenz in
einem befriedeten Umfeld zu sichern. Da-
für lohnt sich auch der Streit.
besten Freunde sein. Wichtig ist,
dasssieInteressenteilen,undvoral-
lem sollten sie dieselben Ziele verfolgen.
Wersichjedochderzeit dasVerhältniszwi-
schen Israels Regierung und der EU an-
schaut, der sieht den Zeiger auf der nach
oben wie unten offenen Beziehungsskala
weit näher an der Feindseligkeit als an der
Freundschaft. Drohungen und Abwertun-
gen prägen den Umgang, Misstrauen be-
stimmt die Tagesordnung. Beim Besuch
des EU-Parlamentspräsidenten Martin
Schulz in der Knesset gipfelte das nun gar
in dem Eklat, dass Abgeordnete einer Re-
gierungspartei bei seiner Rede unter Pro-
test aus dem Saal stürmten. Die Verbin-
dung also ist hochgradig gestört – und das
ist weder ein Zufall noch ein Unfall, son-
dern leider eine logische Entwicklung.
Dreh-undAngelpunktindieserAusein-
andersetzungistdieisraelischeSiedlungs-
politik. Das Merkelsche Diktum, dass man
hierdarinübereinstimme,nichtübereinzu-
stimmen, kann den Formelfrieden höchs-
tensaufdersehrspeziellenbilateralenEbe-
ne sichern. Im Kreis der 28 EU-Nationen
aber wächst der Unmut und damit der
Handlungsdrang mit jeder neuen Bauan-
kündigung aus Jerusalem. Zu einer ge-
meinsamenHaltungkannsichdieEUzwar
MENSCHHEITSVERBRECHEN
Im Zweifel für Den Haag
von s
tefan ul
rich
D
em sogenannten Weltrechtsprin-
EineglobaleStrafverfolgungdurchna-
tionale Gerichte hat jedoch auch Tücken.
Sie kann ein Rechtssystem überfordern,
die Außenpolitik eines Landes torpedie-
ren und gar zu einem Justizkrieg zwi-
schenStaatenausarten.Vorallemaberge-
rätdasWeltrechtsprinzipanseineprakti-
sche Grenzen, sobald sich Großmächte
herausgefordertfühlen.ChilekannSpani-
en schlecht unter Druck setzen; China
kann es, wie sich gerade zeigt, dagegen
durchaus.PromptverabschiedetsichMa-
drid jetzt per Gesetzesänderung von sei-
ner Vorreiterrolle im Völkerstrafrecht.
Das kann man beklagen. Auf Dauer
aberistSpanienohnehinnichtderpassen-
deOrtzurglobalenAhndungvonMensch-
heitsverbrechen. Sie gehören besser vor
die internationale Justiz in Den Haag.
zipliegteingroßer,guterGedanke
zugrunde: Bestimmte Delikte wie
zum Beispiel Völkermord oder Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit sind der-
artgravierend,dasssiesichgegendiegan-
ze Menschheit richten. Sie können daher
in allen Ländern verfolgt werden, unab-
hängigvom Tatortund vonderNationali-
tätderTäterundOpfer.DiespanischeJus-
tiz hat von diesem Prinzip oft Gebrauch
gemacht, indem sie gegen Tyrannen wie
den chilenischen Ex-Diktator Pinochet
vorging. Sie inspirierte so weltweit den
Kampf gegen Menschheitsverbrechen
und brachte lateinamerikanische Staaten
dazu,ihreAmnestiegesetzezurevidieren.
Die EU muss entschlossener gegen
illegalen Siedlungsbau vorgehen
Denn der in Jerusalem ausgelöste Boy-
kott-Alarm zeigt trotz seiner Ãœberzogen-
heit immerhin, dass es auch für die stets
als Papiertiger belächelten Europäer
durchausMittelgäbe,Einflussauszuüben.
Dabei kann es freilich nicht um einen Boy-
kottIsraelsgehen,dersichschonalleinaus
historischen Gründen verbietet, weil im-
mer die Konnotation zur Nazi-Parole
„Kauft nicht bei Juden“ mitschwingt. Aber
ein differenzierter und zugleich gezielter
wirtschaftlicher Druck könnte durchaus
 DEFGH Nr. 36, Donnerstag, 13. Februar 2014
5
POLITIK
HF2
Unbekleidet,
Kritische
Fragen zu Drohnen
Bundestag prüft deutsche Rolle
im Luftkrieg der Amerikaner
INLAND
aber nicht illegal
SPD-Politiker Edathy soll Aufnahmen von Kindern bestellt
haben. Den Ermittlern reichte das für einen Anfangsverdacht
Drohnen-Ersatz verspätet sich
Berlin
– Die Entscheidung über eine
Ersatzlösung für die gescheiterte Auf-
klärungsdrohne
Euro Hawk
verzögert
sich weiter. Das kündigten Verteidi-
gungs-Staatssekretär Stéphane Beemel-
mans und Bundeswehr-Generalinspek-
teur Volker Wieker amMittwoch im
Verteidigungsausschuss an. Eigentlich
sollte bis Ende März eine Entscheidung
darüber fallen, auf welches Fluggerät
das Aufklärungssystem Isis montiert
werden soll, das Herzstück des
Euro
Hawk
. Die Beschaffung der Drohne war
an der Zulassung des Fluggeräts ge-
scheitert, das Ministerium hatte daher
angekündigt, mehrere Varianten zu
prüfen, wie Isis doch noch eingesetzt
werden könnte – etwa in einemPassa-
gierflugzeug. ImAusschuss kam aller-
dings auch die Frage auf, ob das Isis-
System nicht doch in eine Drohne vom
Typ
Global Hawk
eingebaut werden
könnte – also in jene Drohne, auf wel-
cher der
Euro Hawk
basiert. Der damali-
ge Verteidigungsminister Thomas de
Maizière (CDU) hatte dessen Beschaf-
fung gestoppt, weil die zusätzlichen
Kosten für eine Zulassung laut Ministe-
riumbei mindestens 500Millionen
Euro gelegen hätten. Sollten sich die
derzeit geprüften Varianten als ähnlich
teuer erweisen, könnte der
Euro Hawk
also wieder ins Spiel kommen.
München
– Der NSA-Untersuchungsaus-
schuss des Bundestags soll sich nach dem
Willen der großen Koalition nun doch mit
Deutschlands Rolle im US-Drohnenkrieg
auseinandersetzen. Laut einem internen
Antragsentwurf, der der SZ vorliegt, soll
sich der Ausschuss neben der Ausspäh-Af-
färe auchdamit beschäftigen, obUS-ameri-
kanische Behörden in Deutschland oder
von Deutschland aus „rechtswidrigeMaß-
nahmen gegenüber Personen“ durchge-
führt oder vorbereitet haben. Explizit ge-
nannt werden „gezielte Tötungen durch
Kampfdrohneneinsätze“. Die Opposition
hatte auf diesen Punkt bestanden, Union
und SPD hatten ihn in einem ersten An-
tragsentwurf jedoch zunächst nicht er-
wähnt. An diesem Donnerstag debattiert
nun der Bundestag über den Ausschuss.
DieGrünenhabenbereits signalisiert, dass
ihnen der Vorschlag der Koalition nicht
weit genug geht.
von j. becker, t. schultz
und
m. widm
ann
Wenn nach der Razzia, bei der Gegenstän-
de sichergestellt wurden, nichts hinzukä-
me, könnte das ganzeVerfahrenwieder ein-
gestellt werden. Aus Sicht des Beschuldig-
ten wäre die Zerstörung seines Lebens
dann auf dünnster Grundlage geschehen.
Für Spezialisten in solchen Fällen gilt
aber dieRegel:Wer scheinbar harmloseFil-
me mit nackten Kindern ordert, bei dem
ist oft nochHärteres zu finden. Diese Erfah-
rung rechtfertigt aus Sicht der Strafverfol-
ger, genauer hinzusehen. Kreditkartenda-
tensollendiePolizei auf die Spur des Politi-
kers gebracht haben.
Hamburg/München
– Im Kampf gegen
Kinderpornografie sehen Ermittler viele
scheußliche Dinge, albtraumhafte Szenen,
die selbst erfahrene Beamte aus der Fas-
sung bringen. Manchmal finden sie aber
auch Bilder und Filme, die viel harmloser
wirken und dennoch ratlos machen, wenn
einFremder sie unbedingt habenwill: Kin-
der, die aufreizend posieren oder nackt
durch die Gegend laufen, während die Ka-
mera sie verfolgt und einfängt. Manches
davon ist, wenn es imBesitz eines Erwach-
senen gefunden wird, gar nicht strafbar;
manches wirkt nur wie ein kleines Video
vomFKK-Urlaub. Staatsanwälte undRich-
ter müssen dann entscheiden, ob ihnen
das Material reicht für einen Anfangsver-
dacht, der eine Razzia rechtfertigt.
Im Fall des SPD-Politikers Sebastian
Edathy geht es nach Recherchen von NDR
und SZ um solch einen Fall. Am Mittwoch
durchsuchtendieErmittlerweiterePrivat-
räume desPolitikers, derEnde vorigerWo-
cheüberraschend seinMandat als Bundes-
tagsabgeordneter niedergelegt und dafür
gesundheitliche Gründe angeführt hatte.
Bereits am Montag hatten Beamte in Nie-
dersachsen Büros und die Wohnung des
44-Jährigen durchsucht; die Lokalzeitung
Harke
berichtete anschließend über einen
Verdacht von Kinderpornografie.
Kreditkartendaten sollen
die Polizei auf die Spur
gebracht haben
Geheimdienstler reichten
Handynummern weiter
Eine Verschwörung gegen Edathy, der
sich in seiner Karriere beimanchenLeuten
auch im Sicherheitsapparat unbeliebt ge-
macht hat, schließendieErmittler aus. Sol-
che Verdächtigungen werden unter Eda-
thys Anhängern diskutiert. Die Staatsan-
waltschaft behauptet, siewürde dieErmitt-
lungen „mit äußerster Diskretion führen“.
Sie habe niemanden von der Presse über
die Razzia informiert. Das niedersächsi-
sche Justizministerium verlangt eine
schriftliche Stellungnahme der Ermittler,
wer einen Reporter über die Razzia infor-
mierteundweshalber vondraußen inEdat-
hysWohnung hinein fotografieren konnte.
Edathy soll ins Ausland gereist sein, für
die SZ war er nicht zu erreichen. Aus sei-
nem Umfeld ist zu hören, dass er sich zu-
tiefst ungerecht undunrechtmäßigbehan-
delt fühle undder Eindruckbestehe, dieEr-
mittler hätten es auf eine Inszenierung ab-
gesehen. Das Material, das Edathy bestellt
habe, sei schließlich völlig legal gewesen.
Es stellt sich nun auch die Frage, wer
was wannwusste. Es gibt Hinweise darauf,
dass Edathy einen Tipp bekommen haben
könnte. So etwas könnte Strafvereitelung
sein. Ein Antrag, die Immunität des Abge-
ordneten aufzuheben, war am Freitag be-
reits vorbereitet, als Edathy plötzlich sein
Mandat niederlegte. Edathys Mitarbeiter
sollen sich frühzeitigumandere Stellenge-
kümmert haben. Es hatte geheißen, Edat-
hy sei gesundheitlich angeschlagen.
Ausgangpunkt der Ermittlungen ist ein
Fall in Kanada, die Operation „Spade“. Sie
begann2010 inToronto. VerdeckteErmitt-
ler spürten einenKanadier auf, dermitKin-
derpornos handelte, darunter auch harte
Sachen. Im November 2013 gingen die Er-
mittler an die Öffentlichkeit und teilten
mit, bisher hätten386Kinder gerettetwer-
den können. Auch deutsche Medien haben
damals darüber berichtet; alle Kunden
konnten seitdemgewarnt sein. Bei den Er-
mittlungen tauchtenDaten vonDeutschen
auf und wurden ans Bundeskriminalamt
weitergeleitet. Aber ebennicht inallenFäl-
len handelt es sich bei den bestellten Fil-
men tatsächlich um strafbares Material.
Der neue Entwurf der großen Koalition
umfasst 28Fragen–er greift einigeKritik-
punkte der Opposition auf, allerdings
nicht alle. So soll sich der Untersuchungs-
ausschuss zwar damit auseinandersetzen,
ob die Bundesregierung nach den Enthül-
lungen des Whistleblowers Edward Snow-
den den Bundestag und die zuständigen
Kontrollgremien ausreichend unterrichtet
und vor allem nicht gelogen hat. Nicht ex-
plizit erwähntwirdhingegendieÜbermitt-
lungspraxis des Bundesnachrichtendiens-
tes, also die Frage, wie die Spähaktivitäten
des deutschen Geheimdienstes aussehen
undwelche InformationenandieAmerika-
ner weitergegeben wurden.
Die
Süddeutsche Zeitung
und der NDR
hatten vergangenes Jahr aufgedeckt, dass
amerikanische Drohneneinsätze in Afrika
von Stützpunkten in Ramstein und Stutt-
gart aus gesteuert sowie befehligt werden
und Asylbewerber in Deutschland auch
von amerikanischen und britischen Ge-
heimdiensten verhört wurden. Die so ge-
wonnenen Informationenkönnen imsoge-
nannten Targeting-Prozess für Drohnen-
angriffe eine Rolle spielen.
Deutsche Sicherheitsbehördenhaben in
der Vergangenheit zudem regelmäßigMo-
bilfunkdatenanUS-Geheimdiensteweiter-
geleitet. Mit einer Mobilfunknummer al-
leinkönnemannoch langekeinenVerdäch-
tigenortenundmit einerDrohen töten, lau-
tete die Argumentation der Nachrichten-
dienste. Seltsamist nur, warumamerikani-
scheGeheimdienstler dann sobegierigdar-
auf sind, von ihren Partnern Mobilfunk-
nummernvonVerdächtigengeliefert zube-
kommen. Aufschlussreich ist indieser Fra-
ge ein internes NSA-Papier aus demSnow-
den-Bestand: Darinwird eineSoftware na-
mens „Monkey Calendar“ beschrieben.
Heimlich auf das Handy von Verdächtigen
aufgespielt, verschicke sie automatisch
SMSmit denKoordinaten,wo sichdasHan-
dy gerade befindet –und damitmeist auch
sein Besitzer.
hick
Weniger Verurteilte
Wiesbaden
– Die Zahl der in Deutsch-
land strafrechtlich verurteilten Perso-
nen ist weiter rückläufig. 2012 wurden
nach Angaben des Statistischen Bundes-
amtes inWiesbaden vomMittwoch
773 900 Personen rechtskräftig verur-
teilt; das waren vier Prozent weniger als
im Jahr davor. Im Vergleich zu 2007, als
es erstmals eine bundesweite Strafver-
folgungsstatistik gab, verringerte sich
die Zahl der Verurteilten um 14 Prozent.
Die häufigste strafrechtliche Sanktion
war und ist die Geldstrafe. So wurden
560 400 Verurteilte oder 72 Prozent mit
einer Geldstrafe belegt, 136 600 Perso-
nen wurden 2012 zu einer Freiheits-
oder Jugendstrafe verurteilt. 81 Prozent
der Verurteilten warenMänner.
AmMittwoch durchsuchten
die Ermittler weitere
Privaträume des Politikers
Edathy bestreitet, im Besitz kinderpor-
nografischer Schriften zu sein oder sich
diese verschafft zuhaben. AmDienstag leg-
te er nach und kritisierte bei
Spiegel Online
dieRazzia als „unverhältnismäßig“. Er hof-
fe, die Staatsanwaltschaft werde dem-
nächst einräumen, „dass die Vorwürfe ge-
genstandslos sind“. Kathrin Söfker von der
StaatsanwaltschaftHannover sagte, „unse-
re Beamten arbeiten mit Hochdruck dar-
an, das Verfahren beschleunigt zu Ende zu
bekommen“. Das Ergebnis sei noch „völlig
offen“. Nach Informationen von NDR und
SZ geriet Edathy bei internationalen Er-
mittlungen ins Visier. Laut Durchsu-
chungsbeschluss soll er zwischen 2005
und 2010 Film- und Foto-Sets mit Nackt-
aufnahmen von Kindern bei einer kanadi-
schen Firma bestellt und erhalten haben.
Die gezeigten Kinder sollen im Alter zwi-
schen acht und 14 Jahren sein.
Allerdings soll es sich um Aufnahmen
handeln, die in Deutschland nicht strafbar
sind, weil keine sexuellenHandlungenvor-
kämenund dieGenitaliennicht prominent
gezeigt würden. In dem sechs Seiten star-
ken Beschluss wird die Legalität offenbar
ausdrücklich bescheinigt. Warum dann
aber die Ermittlungen? Sie beruhen auf ei-
nem Anfangsverdacht, auf mehr nicht.
kna
Info-Sitzung für Abgeordnete
Berlin
– Der Gesetzentwurf gegen
Abgeordnetenbestechung soll bereits
amFreitag das erste Mal imBundestag
beraten werden. Aber unter den Abge-
ordneten, die den Entwurf beschließen
sollen, gibt es noch Zweifel. Viele haben
die Sorge, dass sie sich künftig mit ihrer
Ansicht nach normalen Verhaltenswei-
sen strafbar machen könnten. Die Spit-
ze der Unionsfraktion greift deshalb
jetzt zu einem eher seltenenMittel. Für
diesen Donnerstag lud sie die Abgeord-
neten zu einer „fraktionsoffenen Sit-
zung“. In der Einladung heißt es, „damit
Sie Ihre Fragen zu der Neuregelung
stellen können“, würden zu demTreffen
Experten aus dem Justizministerium
und der Bundestagsverwaltung kom-
men.
Sebastian Edathy hat sich in seiner Karriere bei manchen Leuten auch im Sicher-
heitsapparat unbeliebt gemacht. Doch eine Intrige gegen ihn schlossen die Ermitt-
ler aus. Edathy selbst nannte die Razzia „unverhältnismäßig“.
rro
frederik obermaier
FOTO: IMAGO
„Ich erzähle nichts mehr am Telefon“
Wie die NSA-Affäre schleichend die Kommunikation der Politiker verändert
Apotheke oder Arzt
Bundestag debattiert über die Freigabe der „Pille danach“
Städte fordern
Hilfe bei Sozialausgaben
München
– Die „Selbsthilfegruppe der
Bürgermeister“, wie Nürnbergs Oberbür-
germeister Ulrich Maly (SPD) den Deut-
schen Städtetag nach einer Sitzung am
Mittwoch nannte, fordert von der Bundes-
regierung kräftige Unterstützung, um sel-
ber Hilfe leisten zu können. Dabei geht es
vor allenDingenumfinanzielleEntlastung
bei den Sozialausgaben. „In Berlin beginnt
nun die Exegese des Koalitionsvertrags.
Wir wollen sicherstellen, dass die Verspre-
chen, die uns gemacht wurden, nicht weg-
interpretiertwerden“, sagteStädtetagsprä-
sidentMaly. UmfünfMilliardenEuro jähr-
lich müssten die Kommunen zügig entlas-
tet werden, damit die Eingliederungshilfe
für Menschen mit Behinderungen umge-
setzt werden kann. „Es geht hier um eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die auch
gesamtgesellschaftlich finanziert werden
muss,“ sagte Maly. Schon wegen ihrer 50
MilliardenEuroungeplanterNeuverschul-
dung 2013 sei es den Städten nicht mög-
lich, die Inklusionspolitik, alsodas gemein-
sameLernenvonbehindertenundnicht be-
hinderten Kindern, ohne finanzielle Hilfe
umzusetzen.
Dochdie Städte erwarten vonder Regie-
rung auch politische Unterstützung. Sorge
bereitet ihnen das Freihandelsabkommen,
über das derzeit EU-Kommission und USA
verhandeln. Die Städte sehen dadurch die
kommunale Daseinsvorsorge bedroht.
„Andere europäische Länder beneidenuns
darum, dass Wasserversorgung, öffentli-
che Verkehrsmittel und Müllabfuhr bei
den Kommunen liegen. Wir appellieren an
die Regierung, dass die Daseinsvorsorge
von dem Freihandelsabkommen ausge-
nommen wird“, sagte Maly. Die Regierung
müsse zur „Schutzpatronin“ der Daseins-
vorsorge werden, um umfassende Privati-
sierungen in der öffentlichen Versorgung
zu verhindern.
Ein immer dringlicher werdendes Pro-
blem in deutschen Großstädten sind laut
Vizepräsidentin des Deutschen Städtetags
EvaLohse (CDU) zudemgewaltbereiteFuß-
ballfans. DerDFB spreche schon jetzt 3000
Stadionverbote jährlich aus, die Gewalt sei
jedoch nicht weniger geworden, sondern
habe sich sogar von den Fußballstadien in
die Innenstädte verlagert. EineMeldeaufla-
ge für wegen Gewaltdelikten vorbestrafte
Fußballfans könne ermöglichen, dass
„Chaoten nicht zu den Spielorten kom-
men“, so Lohse.
Berlin
– „Hallo Herr Maier, wie geht es Ih-
nen? Ich hätte da ein paar Fragen.“
„Hallo, danke, es geht mir gut. Was wol-
len Sie wissen?“
„Ich würde gerne etwas erfahren zur
NSA und zum Umgang der Regierung mit
der Abhöraffäre.“
„Ich muss Sie enttäuschen. Wissen Sie,
ich erzähle nichts mehr amTelefon.“
„Ernsthaft jetzt?“
„Ja, ganz im Ernst. Ich mach nichts
mehr amTelefon. Aberwir könnenuns ger-
ne treffen.“
HerrMaierheißt imnormalenLebenan-
ders. Ansonsten hat sich dieses Gespräch
vor wenigen Tagen genau so zugetragen.
Herr Maier arbeitet im Berliner Kanzler-
amt. Er sitzt schon länger in der Regie-
rungszentrale. Er hat also viel Erfahrung.
Und hin und wieder spricht er auch mit
Journalisten. So gesehen ist dieses Ge-
spräch alles andere als ungewöhnlich.
Ungewöhnlich ist der Zusatz. Er wäre
vor einigen Monaten undenkbar gewesen.
„Ich erzähle nichts mehr am Telefon.“ Das
war früher ein Späßchen, eine Reminis-
zenz an die Zeiten des Kalten Krieges und
andie Staatssicherheit derDDR. Dass soet-
was ernst gemeint sein könnte, war nicht
mehr in den Köpfen.
Das hat sich geändert. Schleichend. All-
mählich. Es ist eher eingesickert alsmit ei-
nem großen Schlag in den Köpfen gelan-
det: das Gefühl, dass das eigene Handy,
das eigeneTelefonat, die selbst geschriebe-
ne SMS nicht mehr geschützt sind. Dass
sich Privatheit auflöst. Es ist ein Nebenef-
fekt derAbhöraffäre, der sichmit demame-
rikanischenGeheimdienst National Securi-
ty Agency verbindet. Und zwar einer, der
womöglich viel nachhaltiger wirken könn-
te, als sich das die Amerikaner vorstellen.
Auf Seiten der Berliner Politiker führt sie
zu einer Vorsicht, die langsam wieder an
ganz andere Zeiten erinnert. Und dazu ge-
hört auch ein Misstrauen und ein Anse-
hensverlust der USA, wie er so nüchtern
und spürbar in allen Parteien noch vor ei-
nem Jahr undenkbar gewesen wäre.
Es gehört längst zuden täglichenWitze-
leien, „NSA!“ zu rufen, wenn bei einem
Handy-Gespräch der Kontakt abbricht
oder wenn es in der Leitung knackt oder
wenn der eine noch was hört, der andere
aber schon nichts mehr. Die NSA gehört
zum Leben. Mal lustig, mal ironisch, mal
zynisch, aber andauernd. Und die Folge?
Spaziergänge sind wieder inMode.
Dabei hat es bis zu diesem Punkt sehr
verschiedene Phasen gegeben. Die erste
war jene, die vor allemmit den Dimensio-
nenüberwältigte. 500MillionenDatensät-
ze in einem einzigen Monat. Das klang
nachsehr viel und schien irgendwann rela-
tiviert, weil diese Daten als Daten aus Af-
ghanistan und Nordafrika identifiziert
wurden. Das klang nach Antiterrorkampf,
München
– Wenn es nach der Opposition
geht, sollenFrauendie „Pille danach“künf-
tig auch ohne Rezept in der Apotheke kau-
fenkönnen. GrüneundLinkewollenandie-
sem Donnerstag jeweils einen Antrag auf
Freigabe desMedikaments der Notfallver-
hütung in den Bundestag einbringen. Sie
können dabei auf die Hilfe der SPDhoffen,
die sich gegen den Bundesgesundheitsmi-
nister gestellt hat. Hermann Gröhe (CDU)
lehnt eine Freigabe der „Pille danach“ ab.
Er will, dass Frauen vor der Einnahme von
einem Arzt beraten werden – ein Argu-
ment, das SPD-Gesundheitsexperte Karl
Lauterbach verstehen aber nicht akzeptie-
ren kann, wie er sagt: „Als Arzt habe ich die
Studienlage geprüft. Das Präparat ist aus-
gesprochen sicher.“ Die SPDwolle dasMit-
tel freigeben. „Wir können nicht akzeptie-
ren, dass Frauen ineinerNotlage einwichti-
ges Recht vorenthalten wird.“
Als „Pille danach“ werden Medikamen-
te der nachträglichen Empfängnisverhü-
tungbezeichnet. Derzeit gibt es zwei Präpa-
rate auf demMarkt, eine Freigabe wird für
das Mittel mit dem Wirkstoff Levonorge-
strel diskutiert. Die „Pille danach“ be-
wirkt, dass sichder Eisprung verzögert, bis
die Spermien abgestorben sind. Hatte die
Frau bereits einen Eisprung, ist das Medi-
kament wirkungslos. Eine dann mögliche
Schwangerschaft bleibt unbeeinträchtigt.
Die „Pilledanach“ ist deshalbkeineAbtrei-
bung. Sie sollte, damit sie wirkt, möglichst
schnell eingenommen werden.
Genaudas aberwirddurchdieVerschrei-
bungspflicht behindert, argumentieren
die Grünen und auch die Linken in ihren
Anträgen. „Eine sehr zeitnahe ärztlicheVer-
ordnung ist insbesondere in ländlichenRe-
gionen oder am Wochenende schwierig
undstellt eineüberflüssige und vermeidba-
re Hürde dar“, heißt es im Antrag der Grü-
nen. Auch die Linke beschreibt die Proble-
me, ein Rezept zu bekommen, das an Wo-
chenenden„nur inKrankenhausambulan-
zen oder durch den ärztlichen Notdienst
ausgestellt werden kann“. Beide Parteien
forderndie unverzüglicheFreigabe desMe-
dikaments. Gleichzeitig soll das Gesetz so
geändert werden, dass die Krankenkassen
die Kosten auch künftig übernehmen kön-
nen – was bei freiverkäuflichen Mitteln
grundsätzlichnicht der Fall ist. InDeutsch-
land kam die „Pille danach“ 2013 knapp
400 000-mal zum Einsatz. Etwa 1000
Frauen nutzten das Angebot der Internet-
Praxis „DrEd“, dieonlineRezepte ausstellt.
„Es wird Zeit, dass aufgeklärte Frauen
sichendlich selbstbestimmt in solchenNot-
fallsituationenentscheidenkönnen“, sagte
Grünen-Politikerin Kordula Schulz-Asche
und kritisierte zugleich den Gesundheits-
minister, dadieser das Votumdes Sachver-
ständigenrats für Verschreibungspflicht
ignoriere. Dieser hatte sich imJanuar für ei-
neFreigabe ausgesprochen. „MinisterGrö-
he setzt nicht auf den fachlichenRat seines
eigenenBundesinstituts, sondernauf Ideo-
logen rückwärtsgewandter Sexualmoral.“
Auch hier stimmt die SPD zu, auch wenn
Lauterbachdasmit Rücksicht auf denKoa-
litionspartner vorsichtiger formuliert. „Es
gibt keine sachlichen Argumente, die ge-
gen eine Freigabe sprechen“, sagte er. „Un-
sere Position wird sich da in der Sache
nicht ändern.“ Ob das Medikament des-
halb freigegeben wird, ist dennoch frag-
lich. Am Donnerstag wird im Parlament
nicht abgestimmt. Die Anträge werden
erst einmal in den Gesundheitsausschuss
überwiesen.
Die NSA gehört zum Leben.
Mal lustig, mal ironisch,
mal zynisch, aber andauernd
schien begründbar und veränderte in den
Köpfender Regierendennochwenig. Dann
kam die Botschaft, auch das Handy der
Kanzlerin sei über Jahre hinweg abgehört
worden. Das klang, zumal für Christdemo-
kraten, plötzlich nach einer persönlichen
Verletzung undKatastrophe, dieman zwar
in jedem Spionagefilm für angemessen,
aber im Verhältnis zu den USA für ausge-
schlossen gehalten hatte. Trotzdemschlug
es emotional noch nicht voll durch, nach
demMotto: Nun ja, das Handy der Kanzle-
rin ist interessant, aber doch wohl kaum
mein eigenes.
Auch das hat sich geändert. Klar ist,
dass Merkels Handy keine Ausnahme war.
Die Regierung Gerhard Schröders war ge-
nauso betroffen. Und vermutlich alle Mi-
nister ebenso. Außerdemzeichnet sich im-
mer stärker ab, dass die US-Regierung
zwar den deutschen Frust versteht, aber
kaum Grundlegendes ändern möchte. Al-
so macht sich Zynismus breit. Selbst die
Frage, ob Merkel schon ihre Akte in Wa-
shington beantragt habe, wird nicht mehr
belächelt. Man kann Abgeordnete, Beamte
und Kabinettsmitglieder fragen, ob Sie
sich vorstellenkönnten, dass dieNSA elek-
tronisch Akten über alle deutschen Politi-
ker abgelegt haben könnte – und erntet
nicht etwa brüske Zurückweisung, son-
dern fast unisono die gleiche Antwort: Na
ja, so weit habe man noch nie gedacht.
Aber ausschließen, ganz ehrlich, könne
man das nicht mehr.
nina von hardenberg
Bloß nicht schwanger werden: Im vergan-
genen Jahr wurde die „Pille danach“ et-
wa 400 000 Mal verschrieben.
Sie tun es noch, aber sie tun es mit immer größerem Unbehagen: Die Minister Sigmar
Gabriel und Peter Altmaier beim Benutzen ihres Handys.
nadia pantel
stefan braun
FOTO: DPA
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